Die Küche lag verlassen. Es war ein großer, altmodischer Raum mit schweren Schränken und Regalen aus Holz, dazu einem ultramodernen Herd und einem Mikrowellenofen sowie einer Geschirrspülmaschine. An den Wänden hingen die üblichen Utensilien: Bündel getrockneter Kräuter und Blumen und antike Servierschüsseln und Geschirr. Alles hatte einen Touch von Home & Garden. Dieser Touch war kostspielig, das wusste Markby – andererseits würde niemand auch nur einen Augenblick lang bezweifeln, dass die Leute, die hier wohnten, über genügend Geld verfügten. Tudor Lodge war ein natürliches Ziel für jeden Einbrecher.

Markby wollte sich gerade vom Fenster abwenden, als sein Blick von einem bunten Etwas an einem Strauch angezogen wurde, der an der Hauswand wuchs. Neugierig bückte er sich und warf einen genaueren Blick darauf. Ein gelber Wollfaden hatte sich in einem Zweig verfangen.

Er kehrte zu Pearce zurück und fragte:

»Haben Sie das dort drüben gesehen?« Pearce kam mit ihm und betrachtete den Faden.

»Sieht nicht so aus, als würde er schon länger dort hängen, oder? Ich werde veranlassen, dass die Spurensicherung ihn mitnimmt. Das Fenstersims und die Scheiben wurden nach Fingerabdrücken untersucht.« Während er sprach, bemerkte Markby hinter der Scheibe eine Bewegung, und beide blickten schuldbewusst auf. Eine Frau mittleren Alters stand in der Küche und beobachtete mit erhobenen Augenbrauen ihr Tun.

»Das ist die Reinemachefrau«, murmelte Pearce.

»Ich lasse Sie jetzt mit Ihrer Arbeit allein«, sagte Markby und wandte sich erneut zur Hintertür. Sie wurde ihm geöffnet, bevor er Zeit fand anzuklopfen. Er lächelte die Frau an.

»Mrs Flack?«, erkundigte er sich freundlich.

»Ja«, antwortete sie steif.

»Und Sie sind Chief Inspector Markby, der früher die Station in Bamford geleitet hat, richtig? Sind Sie wieder zurückgekommen?« Markby interpretierte die Frage so, dass sie wissen wollte, ob er in seinen alten Job zurückgekehrt sei, und verneinte. Ein wenig zaghaft erklärte er ihr, dass er inzwischen Superintendent war und im Bezirkspräsidium arbeitete.

»Hmmm«, sagte Mrs Flack und bedachte ihn mit einem scharfsinnigen Blick, während sie die Neuigkeit verarbeitete.

»Nun ja, ich bin jedenfalls froh, dass Sie es sind, weil Mrs Penhallow in einem schrecklichen Zustand ist und mit Vorsicht behandelt werden muss. Sie sind wenigstens höflich, wage ich zu hoffen.« Mrs Flack schien keine gute Meinung von der Polizei im Allgemeinen zu haben. Er schob sich in die Küche und fragte leise:

»Wie geht es ihr im Augenblick?«

»Ich war gerade oben bei ihr. Sie hat sich hingelegt. Sie hat mit diesem grauenhaften Geweine aufgehört. Aber sie ist nicht sie selbst – was will man auch schon anderes erwarten, nicht wahr?« Mrs Flack starrte Markby herausfordernd an.

»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mich kurz setze?«, fragte Markby und nahm Platz, bevor Mrs Flack eine Chance hatte, es zu verweigern.

»Vielleicht hätten Sie den einen oder anderen Augenblick Zeit für mich, bevor ich nach oben gehe und mit Carla – ich meine Mrs Penhallow spreche?«

»Ich weiß nichts über diese Sache!« Sie starrte ihn schockiert an.

»Er war mausetot, als ich heute Morgen hier ankam! Er lag draußen auf dem Rasen und war ganz nass vom Tau. Er muss die ganze Nacht dort draußen gelegen haben, der arme Teufel. Und sie hat im Morgenmantel neben ihm gesessen und grauenvoll gejammert. Sie hätte sich eine Lungenentzündung einfangen können! Ich habe mich furchtbar erschreckt. Ich dachte, sie hätte den Verstand verloren, also bin ich ins Haus gerannt und hab Dr. Pringle angerufen. Anschließend hab ich die Polizei informiert«, fügte sie hinzu.

»Das war sehr gut durchdacht, Mrs Flack«, lobte Markby. Das Kompliment besänftigte sie vorübergehend, doch sie war eine ehrliche Person.

»Dr. Pringle hat gesagt, ich sollte die Polizei rufen.«

»Ich wage zu behaupten, dass Sie uns auch ohne Dr. Pringles Ratschlag informiert hätten. Hat das elektrische Licht hier in der Küche gebrannt, als Sie heute Morgen zur Arbeit gekommen sind?« Sie nickte.

»Ja. Es ist eine sehr dunkle Küche, morgens jedenfalls. Selbst im Hochsommer wird es nicht viel heller hier drin. Das kommt von den vielen Bäumen draußen im Garten, sie nehmen das Licht weg.« Also würde er Carla fragen müssen, ob das Licht bereits gebrannt hatte, als sie am Morgen nach unten gekommen war, oder ob sie es eingeschaltet hatte. Er war nicht erbaut von dem Gedanken, Carla Fragen stellen zu müssen, nicht wenn sie in dem Zustand war, den Mrs Flack beschrieben hatte. Wahrscheinlich würde sie sich sowieso nicht an irgendwelche Einzelheiten erinnern.

»Vielleicht können Sie mir etwas über die allgemeine Routine im Haus erzählen, Mrs Flack?«, fragte Markby.

»Was beispielsweise machen Sie genau? Worin besteht Ihre Aufgabe?« Mrs Flack nahm auf einem Windsorstuhl Platz und faltete die Hände im Schoß. Sie trug einen rosafarben karierten Overall und praktisches Schuhwerk. Sie hatte eine Dauerwelle in den sorgfältig gekämmten Haaren, die, wie Markby vermutete, gefärbt waren. Sie schimmerten rötlich-braun.

»Ich bin die Haushälterin der Penhallows«, sagte sie fest.

»Nicht die Putzfrau. Das ist ein Unterschied.«

»Ich verstehe«, sagte er ergeben. Sie nickte.

»Ich komme jeden Morgen um halb acht und mache das Frühstück. Nicht, dass Mrs Penhallow viel frühstücken würde, aber Mr …« Sie brach ab, als sie über ihren verstorbenen Arbeitgeber reden sollte, doch dann riss sie sich zusammen.

»Wenn Mr Penhallow oder der junge Luke, der Sohn der beiden, hier sind, brate ich morgens immer Speck. Mrs Penhallow nimmt nur Joghurt und Obst zu sich. Anschließend wasche ich das Geschirr ab und räume die Küche auf …« Markbys Blick glitt zum Geschirrspüler.

»Ich mache mir nichts aus diesem … Dingsbums!«, sagte Mrs Flack laut.

»Was ist schon falsch an einer Schüssel heißen Wassers und einem guten Spülmittel?«

»Nichts.« Markby fühlte sich an sein eigenes altes Kindermädchen erinnert. Widerspruch war genauso zwecklos gewesen wie hier bei Mrs Flack.

»Anschließend kommt die erste Waschladung an die Reihe, dann mache ich die Betten, staube ab, sauge Staub …« In rascher Reihenfolge zählte Mrs Flack ihre Tätigkeiten auf.

»Kochen Sie Mittagessen?«, fragte Markby. Sie schüttelte den Kopf.

»Nicht das, was ich eine anständige Mahlzeit nennen würde. Meist ist sowieso niemand da, um zu essen. Mrs Penhallow ist viel in London. Mr Penhallow ist … war drüben auf dem Kontinent, und der Junge ist Student. Aber wenn Mrs Penhallow nicht in London ist, backe ich manchmal Biskuits. Um vier Uhr serviere ich ihr Tee, und danach gehe ich nach Hause.« Sie deutete über Markbys Schulter hinweg durch das Zimmer, und auf Markbys verständnislosen Blick hin erklärte sie:

»Ich wohne drüben in den Reihenhäusern. Es sind nur ein paar Schritte.«

»Abends bleiben Sie nie hier?«

»Wenn die Penhallows Gäste haben, komme ich noch einmal.«

»Und kochen?« In einem Anflug von Bedauern schüttelte sie den Kopf.

»Nein. Mehr, um ein Auge auf die Dinge zu haben. Die Penhallows mögen schicke Dinnerpartys und lassen sich alles von Cateringfirmen bringen. Ich wage überhaupt nicht daran zu denken, was das kostet, abgesehen von den Fremden, die in der Küche fuhrwerken. Ich bin eine gute Köchin, und ich koche englisches Essen, trotzdem hat Mrs Penhallow mich nie gebeten, für sie zu kochen, keine richtigen Mahlzeiten jedenfalls. Für den Alltag kauft sie jede Menge gefrorenes Zeugs, das man einfach in diesen Mikrowellenherd steckt. Es ist teuer, sich so zu ernähren, für meinen Geschmack jedenfalls, fast genauso teuer wie diese Cateringfirmen, und ich frage mich oft, ob es wirklich gesund ist.« In diesem Augenblick schien ihr aufzufallen, dass ihre Worte wie Kritik an ihren Arbeitgebern klangen, und sie presste die Lippen zusammen und stockte für einen Moment, bevor sie fortfuhr.

»Gestern Abend war ich nicht hier. Ich hatte keinen Grund dazu. Gestern Abend war mein Strickzirkel«, führte sie mit leicht erhobener Stimme aus,

»und das können Sie gerne überprüfen. Ich habe mehrere Zeugen dafür.« Markby unterdrückte ein Lächeln. Es war eindeutig, dass Mrs Flack glaubte, jeder in der Umgebung eines Mordes wäre automatisch verdächtig und müsste der Polizei ein Alibi liefern. Trotzdem, obwohl sie darauf beharrte, den Abend in aller Unschuld verbracht zu haben, spürte Markby, wie Mrs Flack plötzlich unruhig zu werden schien. Es war, als wäre ihr etwas eingefallen. Was mag es nur sein, überlegte Markby, was hat sie noch auf der Seele?

»Sehr schön«, sagte er laut.

»Und wann sind Sie von Ihrem Strickzirkel nach Hause gekommen?« Nun war sie ganz offensichtlich unruhig.

»Das war so gegen halb neun. Wir treffen uns immer im Crown.« Hastig, damit er bloß nicht auf den Gedanken kam, es könnte sich um ein abendliches Zechgelage handeln, fügte sie hinzu:

»In einem der Versammlungszimmer. Wir bekommen den Tee vom Hotel, das ist alles. Wir bringen unsere eigenen Biskuits mit.«

»Und Sie sind zu Fuß nach Hause gelaufen? Das ist ein weiter Weg.«

»Aber nein, ich habe einen kleinen Wagen.« Sie verstummte und begann mit der rechten Hand unruhig am Ehering zu spielen, der am Ringfinger der linken steckte. Freundlich fragte Markby:

»Und Ihnen ist etwas Merkwürdiges aufgefallen, als Sie an Tudor Lodge vorbeigekommen sind?« Es war eine Suggestivfrage, und kein Staatsanwalt hätte sie vor Gericht so stellen dürfen, doch Markby spürte, dass es noch etwas gab, das diese Frau erzählen wollte. Sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte, und brauchte ein wenig Ansporn. Jetzt beugte sie sich vor und sprudelte heraus:

»Ja, jetzt, wo Sie es erwähnen – ich hatte es fast vergessen, nach all dem Aufruhr heute Morgen und alles. Womöglich ist es ja ohne Bedeutung. Vielleicht klingt es sogar einfältig, aber ich bin keine einfältige Frau …«

»Nein. Ich halte Sie für eine sehr einfühlsame und vernünftige Frau, und das ist der Grund, aus dem ich alles erfahren möchte, was Sie uns zu sagen haben«, unterbrach Markby sie.

»Oh, meinen Sie? Nun ja, dann …« Sie glättete ihre Schürze.

»Es sind zwei Dinge. Ich meine, ich habe etwas gesehen, und ich habe etwas gehört. Allerdings nicht zur gleichen Zeit. Gesehen habe ich eine junge Frau. Sie ging die Straße entlang, spät am Abend und ganz allein! Ich bin im Wagen an ihr vorbeigefahren, kurz vor Tudor Lodge. Als ich zu Hause ankam, hab ich mich umgedreht, aber ich konnte sie nicht mehr sehen. Sie war verschwunden. Ich habe überlegt, ob sie vielleicht nach Tudor Lodge gegangen sein könnte.« Markby verbarg sein aufkeimendes Interesse. Ganz vorsichtig jetzt, ich darf sie nicht erschrecken.

»Könnten Sie diese junge Frau beschreiben?« Doch Mrs Flack schien von Zweifeln erfüllt.

»Ich habe sie nur ganz kurz gesehen, Mr Markby. Lange Haare und eine Hose, wahrscheinlich Jeans. Sie ging sehr aufrecht, sehr selbstbewusst. Aber warum? Warum sollte sie so spät nach Tudor Lodge laufen? Sie hat nicht dort gewohnt, war nicht zu Besuch, das hätte ich gewusst. Obwohl …« Sie errötete.

»Mrs Penhallow hat mich nicht gebeten, ein Gästebett herzurichten. Aber irgendjemand hat im Zimmer des jungen Luke ein Bett bezogen. Als ich heute Morgen hineinsah, weil die Tür offen stand, habe ich es gesehen … ich dachte, es wäre vielleicht Mr Penhallow gewesen. Wenn er spät nach Hause kam oder wenn Mrs Penhallow einen ihrer Migräneanfälle hatte, schlief er manchmal in einem anderen Zimmer. Und Mrs Penhallow hatte einen schlimmen Migräneanfall gestern Abend, das hat sie heute Morgen gesagt. Sie hat ihr Schlafmittel genommen und nicht gehört …« Mrs Flack verstummte erneut und zog ein Taschentuch aus ihrer Kittelschürze.

»Und was war die andere Sache?«, erkundigte sich Markby mitfühlend, während die Haushälterin sich die Augen betupfte.

»Was?« Sie blinzelte und steckte das Taschentuch wieder ein.

»O ja. Ich war zu Bett gegangen, aber ich schlief noch nicht, als ich einen merkwürdigen Schrei hörte. Keinen Schrei in dem Sinne, keinen Ruf, aber es klang so ähnlich. Ich dachte, es wäre vielleicht der Fernseher meiner Nachbarn gewesen oder ein Fuchs oder irgendwelche jugendlichen Rowdys in der Stadt auf dem Nachhauseweg aus den Pubs. Es war kurz nach zehn. Ich habe auf meinen Wecker gesehen.« Markby dachte über das Gehörte nach. Prescott würde die Bewohner der Reihencottages fragen müssen, ob noch jemand etwas bemerkt hatte.

»Was die junge Frau betrifft«, fragte er,

»Sie haben kein Gepäck von einer Besucherin gefunden? Keine unbekannten Kleidungsstücke? Oder sonst irgendetwas im Haus, das nicht hierher gehört?« Erneut zögerte Mrs Flack, dann schüttelte sie entschieden den Kopf.

»Nein, kein Gepäck. Allerdings … nun ja, auf dem Küchentisch hier unten standen heute Morgen zwei Tassen Tee. Ich dachte, vielleicht hatte Mr Penhallow Tee für sich und seine Frau gemacht.« Sinkenden Mutes fragte Markby:

»Und wo sind die Tassen jetzt?«

»Abgewaschen«, erklärte sie, genau wie er befürchtet hatte.

»Ich lasse doch kein schmutziges Geschirr herumstehen in meiner Küche, ganz gleich, was passiert!« Zu schade, dachte Markby, doch das sagte er nicht. Die Frau blickte immer noch unruhig drein, als gäbe es noch etwas, das sie sich von der Seele reden wollte, obwohl sie zögerte, es in Worte zu kleiden, aus Furcht vor – was? Unglaube? Lächerlichkeit? Er beugte sich erneut vor.

»Gibt es vielleicht sonst noch etwas, das Ihnen auf der Seele liegt, Mrs Flack?«, fragte er. Sie antwortete mit einem langen Blick, der teilweise Schuldbewusstsein, teilweise Erleichterung ausdrückte.

»Sie sagten gerade, ich wäre eine vernünftige Frau«, antwortete sie schließlich.

»Ich möchte nicht, dass Sie Ihre gute Meinung über mich wieder revidieren.« Sie stieß ein nervöses, mädchenhaftes Lachen aus.

»Nichts von dem, was Sie sagen, könnte dazu führen«, versicherte Markby ihr. Sie errötete.

»Nun ja, die Sache ist die – für einen Moment habe ich so eine alberne Idee gehabt … Die Art und Weise, wie die junge Frau verschwunden ist, einfach so … verstehen Sie, es gibt da eine alte Geschichte, über dieses Haus …«

»Ah!«, rief er aus.

»Der Geist! Tatsächlich hat mir jemand erst vor kurzem davon erzählt.«

»Sie kennen die Geschichte also?« Es erfreute sie sichtlich.

»Dann muss ich Ihnen ja gar nichts erklären. Normalerweise achte ich nicht auf diese alten Geschichten, dieses abergläubische Geschwätz. Ich bin praktisch veranlagt. Aber manchmal kann man nicht anders. Eines Abends habe ich bei den Penhallows gearbeitet, weil sie wieder einmal eine große Party gaben und jemand die Cateringfirma beaufsichtigen musste. Ich ging nach draußen, um den Mülleimer zu leeren. Es war so gegen neun Uhr, und ich hätte schwören können, dass plötzlich jemand genau hinter mir stand. Doch als ich mich umgedreht habe, war niemand da. Es war so unglaublich real, wissen Sie?« Sie schüttelte den Kopf.

»Mr Penhallow hat sich nur über mich lustig gemacht, als ich es ihm erzählt habe.« Markby setzte sich zurück und dachte nach.

»Wann ungefähr war das?«

»Muss wenigstens sechs Monate her sein. Warten Sie, wenn ich mich recht entsinne, war es letzten Oktober. Ja, richtig, es war kurz vor Halloween, und Mr Penhallow meinte, es wären wahrscheinlich Kinder gewesen, die mir einen Streich spielen wollten. Aber es waren keine Kinder. Tudor Lodge liegt, abgesehen von den Reihencottages, meilenweit von jeder anderen Siedlung entfernt. Hier gibt es keine Kinder. Außerdem springen Kinder normalerweise aus ihren Verstecken und erschrecken einen und brüllen ›Süßes, oder es gibt Saures!‹. Sie verschwinden nicht einfach wieder im Nichts.« Sie saßen schweigend da, bis Mrs Flack schließlich fragte:

»Möchten Sie vielleicht, dass ich nach oben gehe und nachsehe, wie es Mrs Penhallow im Augenblick geht? Vielleicht fühlt sie sich ja im Stande, mit Ihnen zu sprechen?« Markby rührte sich.

»Ja, danke sehr, das wäre nett. Sagen Sie ihr, Alan Markby wäre da. Wir kennen uns von früher.« Mrs Flack erhob sich und eilte aus der Küche. Markby hörte, wie sie die Treppe hinaufstieg und nach Carla Penhallow rief.

»Mrs Penhallow? Sind Sie im Stande, einen Besucher zu empfangen? Hier ist ein Gentleman, den Sie kennen …« Markby unterdrückte ein schiefes Grinsen. Mrs Flacks Worte verschleierten seine Identität, zweifellos waren die Worte unbeabsichtigt und würden bestimmt Carlas Neugierde wecken. Er blickte sich in der Küche um, neugierig, wie sie aus der Nähe betrachtet wirkte. Mrs Flack kochte keine Mahlzeiten, und wie es sich angehört hatte, Carla ebenfalls nicht – oder wenigstens sehr selten. Während Andrew Penhallow im Ausland für die Europäische Union unterwegs gewesen war, hatten seine Frau und der Junge sich offenbar die meiste Zeit über mit einfachen Fertigmahlzeiten aus der Tiefkühltruhe versorgt. Und für die gelegentliche große Dinnerparty war Mrs Flack – ihren eigenen Worten zufolge – abends noch einmal hergekommen, allerdings nur, um das Cateringpersonal zu beaufsichtigen. Ansonsten war Carla wohl ein Fan der Mikrowelle, für die es eine reiche Auswahl an industrieller Fertignahrung gab. Und trotzdem hing ein wahrer Wald an Küchengeräten an der Wand, jede Art von Mixer, Stampfer, Schäler, Schaber, Korkenzieher und Hobel, die man sich vorstellen konnte. Auf einer Arbeitsfläche stand eine neue, kostspielige, moderne Küchenmaschine. Daneben stapelten sich Hochglanz-Kochbücher – aber alles schien nur Staffage zu sein. Die Kochbücher erweckten nicht den Anschein, als wären sie in jüngster Zeit aufgeschlagen worden. Die Küchenmaschine sah unbenutzt aus, fast wie neu. Die Mahlzeiten bewegten sich den Umständen entsprechend wahrscheinlich irgendwo zwischen belegtem Toast und Filet Wellington. Markby fragte sich mit wachsender Neugier, was für eine Art von Familienleben die Penhallows geführt haben mochten. Mrs Flack kam die Treppe herunter und betrat die Küche.

»Mrs Penhallow kommt gleich nach unten, Mr Markby«, sagte sie. Sie stellte sich neben die Küchentür und winkte Markby formell zu sich.

»Wenn Sie bitte mitkommen würden, Sir? Mrs Penhallow wird Sie im Salon empfangen.« Die Etikette war, wie es schien, trotz allem etwas, das nicht vernachlässigt werden durfte.

KAPITEL 5

MARKBY STAND auf der Schwelle zum Salon und bemerkte, dass Mrs Flack ein geschicktes Manöver vollbracht hatte. Carla Penhallow war vor ihm eingetroffen. Die erste Begegnung mit trauernden Angehörigen war immer schwierig, und dieses Mal hinderte die persönliche Bekanntschaft mit der Witwe mehr, als dass sie half. Folglich fühlte er sich verlegen und hilflos angesichts der Szene vor ihm. Die Vorhänge waren zugezogen und schufen ein düsteres Zwielicht, obwohl draußen heller Vormittag war. Als Ausgleich für den Verlust an Tageslicht brannte eine Tischlampe, ein Onyx-Fuß mit einem schweren, altmodischen Schirm aus Pergament, und tauchte Polstersessel und Sofas in ein dumpfes, gelbliches Licht. Markby bemerkte einen viktorianischen Kartentisch, ein Piano, mehrere Familienfotos in teuren Rahmen und ein Ölgemälde über dem Kamin. Die Szene in Öl stammte von einem überdurchschnittlichen, wenngleich nach Markbys Meinung nicht herausragenden Künstler. Sie zeigte Fischerboote, die sich in einem winzigen Hafen vor einem Hintergrund aus weißen Cottages und steilen Klippen drängten. Eine Gemeinde, die sich ihren Lebensunterhalt mit Fischen verdiente – früher jedenfalls. Heutzutage wahrscheinlich ein Touristenkaff, dachte Markby ironisch. Das Gemälde strahlte jenes besondere Licht aus, das man in Cornwall finden konnte. Andrews Witwe stand beim Fenster, halb von ihm abgewandt, und schien einen Spalt zwischen den zugezogenen Samtvorhängen zu betrachten – es sah nicht aus, als sähe sie nach draußen. Hätte sie nach draußen geblickt, würde sie ihren Garten gesehen haben, wo inzwischen eine gewissenhafte Suche nach der Mordwaffe im Gange war, die ihren Mann getötet hatte. Doch vermutlich nahm sie das alles überhaupt nicht wahr. Sie war zu sehr in ihrem Elend versunken und blind für alles andere, selbst sein Eintreten. Markby räusperte sich. Sie zuckte zusammen, dann drehte sie sich um und kam ihm rasch mit ausgestreckten Händen entgegen.

»Oh, Alan!« Er nahm ihre Hände auf eine Weise, von der er hoffte, dass sie mitfühlend und tröstend zugleich war.

»Es tut mir ja so Leid, Carla.« Ihre Finger waren eiskalt, und ihr goldener Ehering und ein weiterer Ring mit einem eingefassten großen, rechteckigen Smaragd drückten sich in Markbys Fleisch. Sie löste sich von ihm und riss sich sichtlich zusammen. Sie trug eine braune Wollhose und ein beigefarbenes, gestricktes Oberteil. Der Pullover hing locker an ihrer hageren Gestalt herab. Ihr Gesicht war gezeichnet von Verzweiflung, und das kurz geschnittene Haar, das ihren aus dem Fernsehen bekannten elfenartigen Ausdruck unterstrich, stand vom Kopf ab wie das eines Schuljungen. Sie trug keinerlei Make-up. Markby schätzte sie auf fünfundvierzig, doch selbst in ihrer Trauer wirkte sie leicht zehn Jahre jünger. Sie war keine schöne oder im konventionellen Sinn auch nur attraktive Frau, doch sie besaß die Sorte von Gesicht, die sofort Aufmerksamkeit weckte und nicht so leicht in Vergessenheit geriet.

»Ich bin ja so froh, dass du es bist, Alan«, sagte sie fast unhörbar leise und mit einer herzzerreißenden Würde.

»Andrew hätte sich gewünscht, dass du herkommst.« Markby hatte das Gefühl, sie aufklären zu müssen, bevor sie sich weiter unterhielten.

»Ich bin froh, dass ich imstande war zu kommen, allerdings kann ich nicht behaupten, es wäre meine Entscheidung gewesen. Ich war einfach zur Hand, als der Anruf einging. Für den Augenblick leite ich die Ermittlungen, allerdings ist es möglich, dass ich zu einem späteren Zeitpunkt an jemand anderen übergeben muss. Weil ich ihn gekannt habe, wenn du verstehst. Weil ich euch beide gekannt habe.«

Es hatte eine kurze, eilige Unterhaltung mit dem Chief Constable gegeben.

»Sie kannten den Mann, Alan«, hatte der Chief Constable am Telefon gesagt,

»und das könnte uns helfen. Auf der anderen Seite, falls sich herausstellt, dass der Mörder im Kreis der Familie zu suchen ist … Sie kennen die Vorschriften. Die Tatsache, dass Sie persönlich mit ihm bekannt waren, wird unsere Ermittlungen behindern. Ich verlasse mich darauf, dass Sie imstande sind zu entscheiden, wann Sie den Fall an jemand anderen übergeben.«

»So gut kannte ich ihn auch wieder nicht«, hatte Markby geantwortet.

»Seit unserer Schulzeit habe ich ihn vielleicht ein Dutzend Mal oder so gesehen. Ich weiß, dass er ein Haus in Bamford hat, aber er war selten zu Hause. Ich weiß nicht warum, aber wir haben unsere Bekanntschaft einfach nicht gepflegt.«

»Es gibt auch einen Sicherheitsaspekt, über den wir nachdenken müssen«, sagte der Chief Constable düster.

»Terroristen ziehen zwar im Allgemeinen Bomben oder Kugeln vor, keine stumpfen Schlaginstrumente, doch wir dürfen nicht vergessen, dass Penhallow ein hohes Tier bei der EU war und die Europäische Union dieser Tage eine Menge Emotionen aufrührt. Fischer, Viehzüchter, kleine Geschäftsleute – sie alle haben einen Groll gegen die EU. Diese Eurokraten erwecken den Eindruck, auf unsere Kosten wie die Maden im Speck zu leben, doch wenn es um uns geht, um unsere Lebensumstände, erscheinen sie mitleidslos. Sie umgeben sich mit Regeln und Gesetzen und handeln nach Vorschriften, die kein Mensch mehr durchblickt.«

»Das ist bei der Polizeiarbeit heutzutage auch nicht mehr viel anders«, entgegnete Markby. Der Chief Constable schnaubte abfällig.

»Das müssen Sie mir nicht sagen, Superintendent. Tun Sie einfach Ihr Bestes, in Ordnung?«

Er wollte nicht über die Maßen dienstlich und herzlos erscheinen, und so wählte Markby seine nächsten Worte mit Bedacht.

»Wir werden dieser Sache auf den Grund gehen, Carla, und ich hoffe sehr, dass wir dir nicht zu viel Stress und Aufregung bereiten müssen. Doch ein gewisses Maß ist unvermeidlich … Ich … und meine Beamten, wir müssen Fragen stellen, einige davon sehr persönlich. Jede Morduntersuchung beinhaltet ein Eindringen ins Privatleben, das den Betroffenen grausam erscheinen mag.«

»Ein Mord ist an und für sich schon ein grausames Eindringen in das Privatleben, meinst du nicht?«

Das brachte ihn vorübergehend aus dem Konzept, und er konnte nur schweigend nicken. Sie ging zum Kartentisch und beugte sich vor, um eine Zigarette aus einer kleinen Messingdose zu nehmen. Mit der offenen Dose in der Hand drehte sie sich zu ihm um.

»Möchtest du auch eine?« Markby schüttelte den Kopf.

»Danke. Ich habe seit fünfzehn Jahren nicht mehr geraucht.« Sie stellte die Dose auf den Tisch zurück und zündete sich ihre eigene Zigarette an. Sie nahm einen Zug, dann sagte sie:

»Andrew wollte immer, dass ich damit aufhöre. Ich habe es eingeschränkt, aber im Augenblick ist mir egal, was mit meinen Lungen passiert. Hattest du nie Lust auf eine Zigarette, Alan, auch nach fünfzehn Jahren nicht? Bei deiner Arbeit gibt es doch sicher viele stressige Augenblicke?« Markby war an einer ehrlichen Antwort gelegen.

»Ja. Manchmal würde ich gerne eine Zigarette rauchen. Aber das Gefühl war nie so stark, dass ich nachgegeben und mir eine angesteckt hätte. Sagen wir mal so, ich habe mich daran gewöhnt, nicht zu rauchen. Ich will nicht wieder damit anfangen.« Sie sank in einen gepolsterten Lehnsessel und bedeutete ihm, den Sessel gegenüber zu nehmen.

»Ich habe den kleinen Ambulanzwagen wegfahren sehen. Haben sie … haben sie ihn mitgenommen?«

»Ja.«

»Wird es eine Autopsie geben? Was frage ich, natürlich wird es eine geben. Bitte entschuldige, wenn ich eine Menge dummes Zeug rede. Ich bin ganz durcheinander. Wird man ihn … ich meine, bevor sein Leichnam zu uns zurückkommt zum Begräbnis, wird man ihn wieder sauber machen?«

»Keine Sorge, sie sind sehr gründlich.« Markby zögerte.

»Soll ich vielleicht später noch einmal vorbeikommen, Carla?« Sie schüttelte entschieden den Kopf.

»Nein, ich will reden. Ich brauche jemanden zum Reden. Das bringt mich von meiner Sorge um Luke ab.«

»Euer Sohn?« Markby hob die Augenbrauen.

»Wieso, was ist mit ihm?«

»Nichts, nur dass er mit dem Wagen von Cambridge hierher unterwegs ist. Man hat ihm nicht gesagt, dass sein Vater ermordet wurde. Er weiß nur, dass es einen Unfall gegeben hat. Ich hoffe sehr, er fährt vorsichtig und riskiert nicht Kopf und Kragen oder verliert gar noch den Führerschein. Ich bin erst beruhigt, wenn er heil und wohlbehalten hier angekommen ist. Der arme Junge, es wird sicher ganz schrecklich für ihn sein, wenn er erfährt, dass sein Vater …« Sie beugte sich über die Armlehne des Sessels und drückte ihre halb gerauchte Zigarette aus.

»Verdammte Migräne«, sagte sie.

»Immer noch?«

»Nicht im Augenblick, nein. Aber gestern Nacht hatte ich einen Anfall. Ich war über Mittag in der Stadt, ich meine in London, zu einem Geschäftsessen. Wir haben über eine neue Sendereihe gesprochen. Die letzte lief gut, aber wir wollen die alte Formel nicht wiederholen …« Sie brach ab und schnitt eine Grimasse.

»Das gibt es doch nicht, ich rede immer noch über das Geschäft, obwohl draußen … bin ich vielleicht schon so festgefahren, dass ich nicht mehr …?«

»Nein, nicht festgefahren«, beschwichtigte Markby sie.

»Meredith hat deine letzte Serie verfolgt und mir erzählt, wie gut sie ihr gefallen hat.«

»Danke. Unaufgefordertes Lob ist immer willkommen. Die Sache ist die, jemand hatte das Essen schon vorbestellt, und alles war gut, bis der Nachtisch kam, und wie sich herausstellte, war es Mousse au Chocolat. Schokolade ist eines der Lebensmittel, die meine Migräne hervorrufen, und ich meide sie, wo es geht. Aber wir unterhielten uns angeregt, und bevor ich wusste, wie mir geschah, hatte die Kellnerin die Schüssel mit Mousse vor mir abgestellt. Es war nur eine winzig kleine Dessertschüssel. Ich dachte, es wird schon nicht so schlimm sein, und habe die Mousse gegessen. Die Migräne fing auf dem Heimweg an. Gott sei Dank hab ich nicht hinter dem Lenkrad gesessen. Ich nahm ein Taxi vom Bahnhof nach Tudor Lodge, bin nach oben gestolpert und ins Bett gefallen. Und da bin ich geblieben, die ganze Nacht …« Sie schlug die Hände vor das Gesicht. In der darauf folgenden Stille hörte Markby in einem Nebenraum das Telefon läuten. Kurze Zeit darauf wurde der Hörer abgenommen, und Markby hörte eine Männerstimme. Vermutlich hatte Pearce der Haushälterin bedeutet, dass für den Augenblick sämtliche Anrufe von einem der Beamten beantwortet werden sollten. Das Geräusch der einseitigen Unterhaltung am Telefon schien Markbys Gastgeberin daran zu erinnern, dass er gekommen war, um ihr Fragen zu stellen. Sie sah ihm ins Gesicht.

»Ich hätte ihn retten können, nicht wahr?«, fragte sie.

»Wenn ich nicht krank gewesen wäre. Wenn ich nicht diesen blöden Schokoladennachtisch gegessen hätte. Es ist so … so furchtbar trivial und so ein schreckliches Resultat. Ich hätte es wissen müssen! Schokolade löst fast immer Migräne bei mir …«

»Mach dir keine Vorwürfe, Carla«, unterbrach er sie rasch.

»Wie hättest du wissen sollen, dass ein Mörder um das Haus herumschleicht? Und selbst wenn du unten gewesen wärst, hättest du nicht unbedingt verhindern können, was passiert ist. Möglicherweise wärest du dann jetzt ebenfalls tot.« Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und legte die langen weißen Finger auf die Lehnen. Im Licht der Tischlampe sah Markby, wie dunkle Adern ihre alabasterfarbenen Handrücken überzogen.

»Wie kann ich dir helfen?«, fragte sie niedergeschlagen. Markby nahm die energische Haltung an, von der er wusste, dass Zeugen sie im Allgemeinen als beruhigend empfanden. Ihre Welt fiel in Scherben, doch wenigstens gab es jemanden, der klang, als hätte er alles unter Kontrolle.

»Inspector Pearce wird später zu dir kommen und dir eine Reihe von Fragen stellen. Er ist ein guter Mann, und du kannst ihm vertrauen. Unsere Unterhaltung ist nur eine Voruntersuchung, mehr nicht. Ich habe nur ein paar Fragen. Wann bist du gestern Abend nach Hause gekommen, und hast du Andrew überhaupt gesehen?«

»Ja. Ich habe ihn kurz gesehen, als ich nach Hause kam. Das war so gegen Viertel nach fünf. Ich habe einen frühen Nachmittagszug genommen, weil ich wusste, dass ein Migräneanfall im Anmarsch war und ich so schnell wie möglich nach Hause wollte. Ich sagte zu Andrew, dass ich Migräne hätte, und ging geradewegs nach oben.«

»War sonst noch jemand da? Mrs Flack beispielsweise? Irgendwelche Besucher?« Sie schüttelte den Kopf.

»Hat er dir einen Tee aufs Zimmer gebracht oder sonst irgendetwas?« Ein weiteres Kopfschütteln.

»Nein, ich will nichts von alledem, wenn ich einen meiner Anfälle habe. Andrew weiß das. Ich nehme für gewöhnlich Aspirin oder etwas in der Art. Aber gestern Abend habe ich Schlaftabletten genommen, die noch von Weihnachten übrig waren, als ich eine Phase hatte, wo ich überhaupt nicht schlafen konnte. Ich habe tief und fest geschlafen.« Sie zuckte resigniert die Schultern.

»Es schien eine gute Idee zu sein.«

»Also hast du nicht mehr mit Andrew gesprochen, nachdem du ihm gesagt hattest, du würdest dich wegen der Migräne sofort ins Bett legen?« Sie zögerte.

»Ich glaube, er hat irgendwann den Kopf ins Zimmer gesteckt und gefragt, wie es mir ginge. Das war unmittelbar, nachdem ich das Schlafmittel genommen habe. Ich kann mich nur undeutlich erinnern. Ich weiß nicht, ob du Migräne kennst, aber es ist, als wäre man von Watte umgeben. Man nimmt seine Umwelt nicht mehr richtig wahr. Nur noch Schmerz und Elend.« Sie brach ab, nahm die Hände von den Armlehnen und verschränkte die Finger ineinander.

»Ich klinge wehleidig, nicht wahr? Ich war einfach nur krank, während Andrew … Andrew hat um sein Leben gekämpft.«

»Nein, du klingst überhaupt nicht wehleidig«, widersprach Alan.

»Du berichtest lediglich exakt, wie der Abend aus deiner Sicht verlaufen ist, und genau das will ich wissen.« Er sah zu dem Ölgemälde über dem Kamin.

»Ist das Cornwall?«

»Was?« Sie folgte seinem Blick.

»Oh. Ja, Cornwall. Andrews Geburtsort, Port Isaac. Nicht, dass Andrew besonders stolz darauf gewesen wäre, aus Cornwall zu stammen. Er ließ es bei Unterhaltungen durchblicken, wenn er der Meinung war, dass es ihm Pluspunkte verschaffte.« Markby kannte eine Reihe

»professioneller« Waliser und Schotten von dieser Sorte. Er nickte schweigend.

»War Andrew diesmal länger zu Hause?«, fragte er schließlich und lenkte sanft auf das ursprüngliche Thema zurück.

»Nur ein paar Tage. Er blieb normalerweise eine Woche oder so. Letztes Mal, als er zu Hause war, hatten wir Meredith und dich zum Essen eingeladen, weißt du noch? Ihr seid damals nicht gekommen.«

»Ich weiß«, entschuldigte Markby sich.

»Ich wurde zu einem Einsatz gerufen, daran war nichts zu ändern. Tut mir Leid.«

»Er hat – hatte – eine Wohnung in Brüssel.« Carla stockte.

»Ich schätze, ich hätte nach Brüssel gehen und mit ihm zusammen wohnen können. Aber ich habe meinen eigenen Beruf, und in Belgien wäre ich viel zu weit weg von allem gewesen, verstehst du? Außerdem gibt es auch noch Luke. Solange ich hier war, hatte der Junge wenigstens seine Mutter im Land.« Sie schien erneut zu stocken, kaum wahrnehmbar diesmal, und Markby fühlte sich an Mrs Flack erinnert. War Carla vielleicht etwas eingefallen, von dem sie meinte, er müsse es nicht erfahren?

»Andrew hat keine Probleme erwähnt? Nichts, das ihm auf der Seele lag?«

»Nicht mehr als gewöhnlich. Er hat – hatte – einen verantwortungsvollen Beruf, und er nahm seine Arbeit ernst. Aber es war nichts Außergewöhnliches. Er wurde nicht bedroht oder etwas in der Art, jedenfalls glaube ich das. Vielleicht wollte er es mir auch nicht erzählen. Trotzdem, ich denke, ich hätte es gemerkt, wenn ihn etwas beschäftigt hätte. Außerdem, was hat das denn damit zu tun? Was Andrew zugestoßen ist, das war ein hässlicher, niederträchtiger Angriff eines Verbrechers, eines Einbrechers oder Räubers. Andrew hat ihn wahrscheinlich überrascht.« Markby blickte sich erneut im Zimmer um.

»Hier drin scheint nichts angerührt worden zu sein.« Ihm kam ein Gedanke.

»Mrs Flack hat noch nicht aufgeräumt, oder?« Es wäre ihr zuzutrauen gewesen, genau wie sie die benutzten Teetassen sofort gespült hatte. Doch Carla schüttelte nur den Kopf. Gott sei Dank.

»Nein, dazu hatte sie noch keine Gelegenheit.« Sie starrte die Gegenstände im Zimmer befremdet an.

»Alles ist so wie immer«, sagte sie schließlich, als könnte sie ihren Augen nicht trauen.

»Du meinst, es fehlt nichts, weder hier noch anderswo? Soweit du es beurteilen kannst?«

»Ich habe nicht nachgesehen«, gab sie zurück, dann schüttelte sie den Kopf.

»Ich hätte es bemerkt, wenn Schubladen herausgezogen worden wären und so weiter. Aber wir bewahren keine größeren Geldbeträge im Haus auf. Ich vermute …« Sie sprang nervös auf und rannte an Markby vorbei aus dem Raum, während sie nach Mrs Flack rief.

»Irene!« Mrs Flack antwortete auf der Stelle. Sie schien sich in der Nähe aufgehalten zu haben, bereit, jederzeit herbeizukommen und ihre Arbeitgeberin vor Schikanen der Polizei zu beschützen. Markby hörte die beiden Frauen leise murmeln. Carla kehrte mit gerötetem Gesicht zurück.

»Irene sagt, alles wäre an seinem Platz. Jedenfalls glaubt sie das. Das Silberservice ist noch im Schrank im Esszimmer. Es ist ein georgianisches Teeservice. Das gute Besteck ist ebenfalls noch in seiner Schublade. Irene hat extra nachgesehen, nachdem sie die Polizei angerufen hat.« Carla lächelte traurig.

»Irene ist ein richtiger Schatz. Sie kümmert sich um uns alle, sie …« Sie verstummte und blickte auf ihre Hände hinab. Sie hatte die Fäuste so fest geballt, dass die Knöchel weiß hervortraten.

»Ich weiß«, sagte Markby.

»Versuche ruhig zu bleiben, Carla.« Sie hob den Kopf und begegnete trotzig seinem besorgten Blick.

»Es muss ein Einbrecher gewesen sein! Andrew hat ihn aufgeschreckt, als er versucht hat, ins Haus einzubrechen! Er hat Andrew angegriffen und … als er sah, was er angerichtet hat, geriet er in Panik und lief davon. So muss es gewesen sein!« Sie sank in den Sessel, in dem sie zuvor gesessen hatte, und in ihren Augen wallten Tränen auf.

»Niemand sonst hätte Andrew etwas angetan! Warum auch!« Die Tränen waren ein Hinweis für Markby, dass diese Befragung nicht viel länger andauern konnte. Er murmelte ein paar tröstende Worte, um sogleich nachzuhaken:

»Als du heute Morgen nach unten gekommen bist, war Mrs Flack noch nicht da, ist das richtig?« Sie schüttelte heftig den Kopf.

»Nein, sie kam erst später – oh, die arme Irene! Sie muss ja so verängstigt gewesen sein! Nicht nur vom Anblick Andrews … wie er da gelegen hat, sondern weil ich völlig die Kontrolle über mich verloren hatte. Sie sagt, ich hätte einfach nur dort gesessen und geheult wie ein Schlosshund. Ich muss ihr glauben, was sie sagt, weil ich mich an überhaupt nichts mehr erinnern kann. Kurze Zeit später kam Dr. Pringle. Sie brachten mich nach drinnen, und dann habe ich mich wohl ein wenig beruhigt.«

»Carla«, erkundigte sich Markby vorsichtig,

»wie genau erinnerst du dich an die Augenblicke, bevor du Andrew gefunden hast?« Sie zuckte fast ein wenig zusammen, dann starrte sie ihn an. Sie hatte ihre Tränen unter Kontrolle, doch ihre großen, verängstigt dreinblickenden Augen glitzerten verdächtig feucht.

»Ich meine«, fuhr Markby fort,

»kannst du mir genau berichten, was du von dem Augenblick an getan hast, als du aus dem Bett aufgestanden bist, bis zu dem Zeitpunkt, als du in den Garten gegangen bist?«

»Oh.« Sie runzelte die Stirn.

»Ja, ich glaube, das kann ich. Ich bin wach geworden und habe gemerkt, dass Andrew nicht bei mir im Schlafzimmer ist. Ich war nicht überrascht, weil er häufig in einem anderen Zimmer schläft, wenn ich einen meiner Migräne-Anfälle habe. Ich erinnere mich, auf den Wecker gesehen zu haben.« Sie nickte bekräftigend, wie um sich selbst zu versichern, dass ihr Gedächtnis noch funktionierte.

»Ich dachte, dass Mrs Flack bald kommen würde. Ich stand auf und ging in Lukes Zimmer, weil ich dachte, dass Andrew dort geschlafen hätte. Das Bett war zwar gemacht, aber niemand hatte darin geschlafen. Das war …« Sie stockte.

»Es erschien mir eigenartig. Ich dachte mir zuerst nichts Besonderes dabei, aber ich war schon verwirrt. Ich nahm an, dass er vielleicht hier unten auf dem Sofa eingeschlafen wäre.« Sie deutete auf das Sofa gegenüber der Sitzgruppe.

»Darum bin ich nach unten gegangen, habe hier drin nachgesehen, und als er hier nicht war, bin ich in die Küche gegangen.« Markby beugte sich vor.

»Was genau hast du in der Küche gesehen?«

»Gesehen? Was denn? Alles war genauso wie immer.« Sie blinzelte nervös.

»Worauf möchtest du denn heraus, Alan?«

»Ich möchte nicht, dass du irgendetwas anderes sagst als das, woran du dich erinnerst.« Er lächelte aufmunternd.

»Ich will dir keine Ideen suggerieren. Aber gut, kehren wir zur Tür zurück. Stand sie offen, oder war sie geschlossen? War das elektrische Licht eingeschaltet oder nicht?« Sie verzog das Gesicht zu einer Miene des angestrengten Nachdenkens, während sie versuchte, sich die Szene zu vergegenwärtigen.

»Die Hintertür war geschlossen und das Licht ausgeschaltet«, sagte sie schließlich dumpf.

»Ich habe es eingeschaltet. Ich habe die Tür geöffnet. Ich … Andrew war nicht im Haus, und ich dachte, vielleicht ist er schon nach draußen gegangen, um Milch zu holen oder was weiß ich. Ich dachte, ich gehe zur Garage und sehe nach, ob der Wagen da ist … aber so weit bin ich nicht gekommen.« Sie stockte und blickte zur Seite.

»Es tut mir wirklich sehr, sehr Leid, Carla«, sagte Markby mitfühlend. Sie seufzte leise.

»Es ist so schlimm, schlimmer kann es gar nicht werden. Aber das ist falsch, nicht wahr? Es kann immer noch schlimmer kommen. Die ganze Presse lungert da draußen herum, hat Irene gesagt. Wie Aaskrähen, die am Straßenrand warten, wenn ein Kaninchen unter die Räder gekommen ist.« Er beugte sich vor und legte die Hand auf ihren Arm.

»Bleib ruhig, Carla. Ruh dich ein wenig aus. Wir kümmern uns um die Presse, einverstanden? Inspector Pearce wird möglicherweise heute Abend vorbeikommen, um dich zu befragen, oder vielleicht auch erst morgen Früh, wenn du dich heute Abend noch nicht dazu im Stande fühlst. Falls dir noch irgendetwas einfällt, dann sag es ihm, auch wenn du dir nicht ganz sicher bist, weil du die Schlaftablette genommen hast. Wichtig ist ganz besonders all das, was Andrew Ungewöhnliches getan oder gesagt hat. Alles, was irgendwie von der Norm abwich.« Sie nahm die Hände vom Gesicht.

»Ja, natürlich«, sagte sie ruhig.

»Danke, Alan.« Er stand auf und ging in die Küche zurück, wo er Mrs Flack vorfand, die dort offensichtlich auf ihn gewartet hatte. Sie sprang hinter dem Kühlschrank hervor, als er den Raum betrat.

»Sie haben Sie doch wohl nicht wieder aus der Fassung gebracht, Mr Markby?«, fragte sie anklagend.

»Nein«, versprach er und erntete zur Antwort einen misstrauischen Blick. Er sah sich um. Es gab zwei Lichtschalter, einen neben der Tür zur Eingangshalle und einen weiteren neben der Hintertür.

»Haben Sie einen Schlüssel für das Haus, damit Sie aufschließen können, wenn Sie morgens kommen?«, fragte er unvermittelt.

»Selbstverständlich«, antwortete Mrs Flack steif.

»Also lösen Sie den Einbruchalarm nicht aus?«

»Im Allgemeinen ist die Alarmanlage bereits ausgeschaltet, wenn ich komme«, antwortete sie.

»Aber ich kenne die Kombination, für den Notfall. Heute Morgen war sie nicht eingeschaltet.« Weil Andrew Penhallow keine Gelegenheit mehr gehabt hat, sie zu aktivieren, dachte Markby. Was möglicherweise auch seinem Angreifer in den Plan gepasst hatte.

»Ich wäre Ihnen dankbar«, sagte er,

»wenn Sie sich noch einmal gründlich überall im Haus umsehen würden, um ganz sicher zu sein, dass nichts durchwühlt oder gestohlen wurde. Mrs Penhallow ist sicherlich nicht im Stande, dies im Augenblick selbst zu tun.«

»Das weiß ich«, schnappte Mrs Flack.

»Manchmal frage ich mich, was ihr Polizisten eigentlich glaubt, wenn ihr Leute wie Mrs Penhallow schon wenige Stunden, nachdem ein geliebter Angehöriger vor seinen Schöpfer getreten ist, derartig ausquetscht. Ihr stellt jede Menge Fragen und erwartet vernünftige Antworten! Ich weiß, ihr müsst eure Arbeit machen«, gestand sie ihm das Recht zu, sich im Haus der Penhallows aufzuhalten,

»aber es gibt für alles eine Grenze, selbst in einer Zeit wie dieser! Der Anstand sollte gewahrt bleiben.« Er widersprach nicht, weil es sinnlos war. Und weil sie sich irrte. Der Anstand war das Erste, was bei einer Morduntersuchung auf der Strecke blieb.

Ein unerwarteter freier Tag bedeutet in der Regel, Arbeiten erledigen zu können, die liegen geblieben waren. Beispielsweise den Kühlschrank abtauen. Die Küchenregale säubern. Die Schlafzimmervorhänge herunternehmen und in die Waschmaschine stecken. Mit dem Wagen in den Supermarkt fahren und Vorräte ergänzen. Den kleinen Garten hinter dem Haus auf Vordermann bringen.

Meredith saß an ihrem Küchentisch und nahm ein spätes Frühstück zu sich, während sie darüber nachsann, dass sie wahrscheinlich keine von all diesen lobenswerten Aktivitäten in Angriff nehmen würde. Der bloße Gedanke an irgendeine der vorgenannten Aufgaben erzeugte einen definitiven Niedergang ihrer Stimmung, die bereits tief genug am Boden war. So hatte Meredith sich das bevorstehende Wochenende nicht ausgemalt.

Sie hatte sich an dem Gedanken erfreut, dass sie und Alan vielleicht für zwei Tage wegfahren würden. Nicht weit, weil die Zeit beschränkt war. Vielleicht in einen Landgasthof mit guter Küche, Sauna und Whirlpool. Eine erholsame, kraftspendende Pause vom Alltag würde beiden gut tun. Der wirkliche Grund dahinter war natürlich die Zeit, die sie mit Alan würde verbringen können. Vergangene Nacht, in dem griechischen Restaurant, hatte es so ausgesehen, als würde ihr Plan aufgehen. Er hatte ihrem Vorschlag zugestimmt, ein Wochenende woanders wäre eine gute Idee. Er wollte gleich am heutigen Morgen, sobald er auf der Arbeit war, herausfinden, ob es sich einrichten ließe, und sie dann informieren. Er hatte bisher noch nicht angerufen. Sie vermutete das Schlimmste.

Doch er hätte wirklich anrufen können, und wenn es nur gewesen wäre, um ihr zu sagen, dass es nicht machbar war. Meredith stand vom Küchentisch auf und ging entschlossen zum Telefon.

Doch im Bezirkspräsidium sagte man ihr, dass Superintendent Markby nicht zu sprechen sei.

»Soll das heißen, er ist da, aber er hat zu viel zu tun, oder ist er gar nicht im Haus?«, erkundigte sich Meredith. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, diese Frage zu stellen. Sie erhielt die Antwort, die ihr am wenigsten behagte. Markby war nicht im Haus. Er war zu einem Einsatz gerufen worden.

»Danke«, sagte sie düster und ließ den Hörer auf die Gabel fallen.

»Vielen herzlichen Dank.«

»Zu einem Einsatz gerufen« bedeutete, dass es einen neuen Fall gab. Und das bedeutete Lebwohl für jeden Plan von einem gemeinsamen Wochenende in einem ruhigen Landgasthof – trotz der Tatsache, dass Alan inzwischen einen Rang bekleidete, der ihm freie Wochenenden hätte garantieren müssen. Doch wie sie Alan kannte, würde er sich nicht losreißen können, wenn freitags etwas auf seinen Tisch kam, was offensichtlich geschehen war. Er wollte verfügbar sein, nur für den Fall … Meredith starrte das Telefon an, und eine Erinnerung stieg in ihr auf. Vielleicht sollte sie jemand anderen anrufen. Die Penhallows. Sie hatte die geheimnisvolle Anhalterin nicht vergessen. Die Begegnung war ihr die ganze Nacht über durch den Kopf gegangen. Meredith war sicher, dass der Besuch, den die junge Frau Tudor Lodge abzustatten gedachte, ein unangekündigter Überraschungsbesuch war. Was mehrere Möglichkeiten nach sich zog, die Penhallows betreffend, die für andere Leute nicht galten. Andrew beispielsweise hatte einen wichtigen Posten bei der EU, der unter Umständen nicht ganz ungefährlich war. Carla gehörte zur

»Prominenz« und war aus ihren beliebten Fernsehsendungen bekannt. Andrew und Carla gehörten zu jenen Leuten, die durchaus eine ganze Reihe merkwürdiger Gestalten anzogen, angefangen bei übereifrigen Fans bis hin zu UFO-Sichtern, Euro-Verrückten oder, angesichts ihres weit über dem Durchschnitt liegenden Einkommens, Einbrechern und anderen Kriminellen. Meredith blätterte durch ihr Adressbuch und fand die Nummer der Penhallows. Das Telefon läutete so lange am anderen Ende, dass sie bereits dachte, niemand wäre zu Hause. Sie wollte den Hörer gerade wieder zurücklegen, als jemand abnahm. Eine männliche Stimme, doch ganz sicher nicht Andrew Penhallow.

»Ja?«, fragte die Stimme abweisend.

»Ist dort Tudor Lodge?« Vielleicht hatte sie sich verwählt.

»Ja.«

»Könnte ich dann bitte mit Mr oder Mrs Penhallow sprechen?«

»Tut mir Leid, Ma’am«, antwortete die Stimme entschieden.

»Weder Mr noch Mrs Penhallow sind zurzeit zu sprechen.«

»Nicht zu sprechen« schien die einzige Antwort zu sein, die sie an diesem Tag erhielt. Störrisch hakte Meredith nach:

»Wann sind sie denn wieder zu sprechen?«

»Dürfte ich erfahren, wer Sie sind?«, entgegnete die Stimme mit einer hölzernen Förmlichkeit, die dazu geeignet war, einen Verdacht aufkeimen zu lassen.

»Sind Sie vielleicht Polizeibeamter?«, fragte sie ungläubig. Das wendete das Blatt. Nun klang die Stimme am anderen Ende überrascht.

»Warum möchten Sie dies wissen, Ma’am?«

»Niemand sagt heutzutage noch Ma’am zu einer Frau«, entgegnete Meredith spröde.

»Niemand außer der Polizei, heißt das. Oder sind Sie vielleicht der Butler, obwohl ich mich nicht erinnere, einen Butler bei den Penhallows gesehen zu haben. Stimmt etwas nicht mit Andrew und Carla?« Ihre Stimme wurde mit jedem Wort schriller, und ihre Besorgnis wuchs.

»Ich fürchte, ich bin nicht in der Position, Ihnen diesbezüglich Auskunft zu erteilen, Ma’am«, erwiderte die Stimme zu Merediths wachsendem Ärger.

»Ich schlage vor, Sie rufen morgen noch einmal an.«

»Vergessen Sie morgen!«, fauchte Meredith.

»Was geht da vor? Mein Name ist Mitchell, Meredith Mitchell. Ich bin eine Freundin von Mrs Penhallow …« Weiter kam sie nicht.

»Sind Sie das, Miss Mitchell?«, rief die Stimme am anderen Ende der Leitung. Sämtliche Förmlichkeit war wie weggeblasen, und sie klang mit einem Mal überrascht und erfreut.

»Ich bin es, Dave Pearce. Wollen Sie mit seiner Hoheit sprechen?«

»Inspector Pearce? Gütiger Gott, was … ich meine, warum sind Sie dort? Was ist passiert? Was meinen Sie mit ›seine Hoheit‹? Ist Alan etwa da?« Alan in Tudor Lodge, und das noch vor Mittag, wie Meredith mit einem Blick auf ihre Armbanduhr feststellte. In ihr stieg eine dunkle Vorahnung auf. Das musste etwas Ernstes sein. Kein einfacher Einbruch, ganz bestimmt nicht. Etwas viel Ernsteres.

»Inspector?«, fragte Meredith furchterfüllt.

»Was ist passiert?« Innerlich verfluchte sie die Tatsache, dass sie am Vorabend nichts unternommen hatte, um sicherzustellen, dass in Tudor Lodge alles in Ordnung war. Sie hatte Alan von der jungen Anhalterin erzählt, zugegeben, doch sie hätte darauf bestehen sollen, dass sie auf dem Weg zum Restaurant kurz bei den Penhallows vorbeisahen und sich überzeugten, dass alles mit rechten Dingen zuging. Oder einfach nur den Telefonhörer zur Hand nehmen und kurz anrufen. Pearce senkte die Stimme zu einem vertraulichen Flüstern.

»Ich darf Ihnen keine Auskunft geben, Miss Mitchell, nicht am Telefon«, kam es durch den Hörer.

»Ich werde dem Superintendent Bescheid sagen, dass er Sie anruft. Es ist … etwas Ernstes, ja. Aber Mrs Penhallow geht es gut.« Erleichterung durchflutete Meredith.

»Gott sei Dank!« Dann dämmerte ihr die Bedeutung von Pearces Worten.

»Und Andrew? Mr Penhallow?«

»Ich fürchte nein, Miss Mitchell. Ich sage dem Superintendent, er soll Sie anrufen, einverstanden?« Dave Pearce klang wieder förmlich. Mehr würde sie aus ihm nicht herauskriegen.

»Danke«, sagte sie und legte den Hörer zurück auf die Gabel. Für einen Augenblick stand sie unentschlossen in ihrem Flur. Am liebsten wäre sie direkt nach Tudor Lodge gerannt und hätte selbst nachgesehen. Doch wenn die Polizei dort war, würde man sie abkanzeln und wieder nach Hause schicken. Ein leises Geräusch aus der Küche drang an Merediths Ohr und weckte sie aus ihren Gedanken. Da war es schon wieder. Hatte sie etwa das Fenster oder die Gartentür offen stehen lassen? Meredith ging rasch die wenigen Schritte zur Küchentür, die sie zum Telefonieren hinter sich geschlossen hatte, drückte leise die Klinke herunter und stieß die Tür auf. Fast im gleichen Augenblick fiel die Gartentür, die von der Küche nach draußen führte, ins Schloss. Sie erhaschte einen flüchtigen Blick auf eine Gestalt hinter der Milchglasscheibe und hörte trappelnde leichte Füße davonrennen. Sie stürzte zum Fenster über dem Spülbecken und sah gerade noch einen Jungen von dreizehn oder vierzehn Jahren in den allgegenwärtigen Jeans und einer Bomberjacke mit weißen Turnschuhen und verräterischen, kurz geschnittenen roten Haaren. Er kletterte mit dem Geschick einer Katze über die hintere Mauer, drehte sich um und sprang zu Boden. Bevor er verschwand, erhaschte sie einen letzten Blick auf sein Gesicht. Er sah weder verängstigt aus, weil überraschend doch jemand zu Hause gewesen war, noch schien er angesichts seiner gelungenen Flucht zu triumphieren. Er sah einfach aus wie jemand, der so etwas schon so häufig gemacht hatte, dass es zur Routine geworden war. Wahrscheinlich hatte er den Vorfall in Gedanken bereits abgeschrieben, noch bevor er auf der anderen Seite der Mauer gelandet war. Meredith rannte in den Hof hinaus und über das Pflaster zu der rückwärtigen Tür. Sie war verschlossen. Ärgerlich zerrte sie an der Klinke, dann gab sie auf. Der Schlüssel war im Haus, an einem Haken in der Küche. Sie benutzte die Hintertür nie, daher war sie stets abgesperrt. Wie es schien, war ihr Garten trotzdem nicht sicher. Hinter der Mauer, wie der Einbrecher offensichtlich gewusst hatte, zog sich eine schmale Gasse hin, gerade breit genug für eine Person. Die Gasse führte entlang der Rückseite sämtlicher Grundstücke der viktorianischen Reihenhaussiedlung und mündete schließlich in ein Gewirr ähnlicher Gassen und Wege, welche die älteren Gebäude der Stadt untereinander verbanden. Meredith kehrte in die Küche zurück. Diesmal versperrte sie die Tür sorgfältig hinter sich. Mitten am helllichten Tag!, dachte sie. Nerven hatte er, der jugendliche Einbrecher! Wahrscheinlich hatte er das Haus die ganze Woche beobachtet, während sie auf dem Lehrgang gewesen war, und sich überzeugt, dass die Bewohner abwesend waren. Woher hatte er wissen sollen, dass sie zurückgekehrt war? Ohne Zweifel hätte er ein Fenster eingeschlagen, um in das Haus einzusteigen, doch zuvor hatte er routinemäßig die Tür ausprobiert – die Leute waren manchmal allzu sorglos – und Glück gehabt. Meredith blickte sich in der Küche um, ob etwas gestohlen worden war. Sie fand keine offensichtlichen Lücken, und der Einbrecher hatte beide Hände frei gehabt, als er die Mauer hochgeklettert war. Ihre Geldbörse und Brieftasche lagen – Gott sei Dank! – oben im Schlafzimmer. Es war knapp gewesen und ein denkbar beunruhigender Vorfall. Die Jugend des Einbrechers bedeutete nicht notwendigerweise, dass er ungefährlich war. Die Küche war voll mit Dingen, die sich als Waffe verwenden ließen. Zwei scharfe Gemüsemesser auf dem Spülbeckenrand. Hätte sie ihn überrascht, wäre er vielleicht zum Becken gesprungen und hätte ein Messer gepackt, um … Sie verdrängte den Gedanken und nahm sich vor, die Hintertür in Zukunft stets verschlossen zu halten und ihre Nachbarn rechts und links zu ermahnen, das Gleiche zu tun, ohne sie zu erschrecken. Beide waren schon älter. Ein Einbrecher.

»Was um alles in der Welt ist in Tudor Lodge passiert?«, sinnierte sie laut.

Markby fand Pearce vor dem Haus. Der Inspector wartete geduldig auf seinen Vorgesetzten, während er mit den Händen in den Taschen und einem untröstlichen Ausdruck im Gesicht die Suche im Garten beobachtete. Der arme Dave, dachte Markby. Er wusste, dass Pearces Pläne für das Wochenende zunichte waren. Wahrscheinlich überlegte der Inspector angestrengt, wie er die Sache bei Tessa wiedergutmachen konnte, seiner frisch Angetrauten. Tessa würde lernen müssen, dass die Ehe mit einem Polizisten bedeutete, ihn mit einer unnachgiebigen Herrin zu teilen. Die Arbeit würde stets an erster Stelle kommen. Kein Wunder, dass Polizistenehen so häufig geschieden wurden. Markbys eigene Ehe war ebenfalls daran gescheitert. Selbst seine Beziehung zu Meredith … Markby unterdrückte einen resignierten Seufzer.

Der Superintendent näherte sich seinem Untergebenen.

»Und?«, fragte er mitfühlend.

»Schon was gefunden?« Er nickte in Richtung der in Overalls steckenden Beamten der Bereitschaftspolizei.

»Noch nicht«, murmelte Pearce.

»Bis jetzt hatten wir noch kein Glück …«, fügte er hinzu. Dann riss er sich zusammen.

»Haben Sie mit der Witwe gesprochen?«, erkundigte er sich.

»Ja. Sie ist ganz und gar untröstlich.« Markby fasste das Ergebnis seiner Unterhaltung mit Carla Penhallow zusammen.

»Wir müssen das alles überprüfen. Nur Andrew Penhallow war zu Hause, als sie gestern Abend heimgekommen ist. Allerdings hat sie vom Bahnhof ein Taxi hierher genommen, und möglicherweise erinnert sich der Fahrer an sie. Sie ist recht bekannt. Überprüfen Sie die Fahrpläne. Außerdem das Geschäftsessen und die Speisefolge, aber das sollte kein Problem sein. Lassen Sie die Spurensicherung Abdrücke vom Lichtschalter neben der Küchentür zum Garten nehmen, und zur Sicherheit auch noch vom zweiten Lichtschalter. Falls es nicht bereits geschehen ist, auch die beiden Türgriffe müssen untersucht werden. Mrs Penhallow sagt, die Küche hätte im Dunkeln gelegen, als sie heute Morgen nach unten kam, und sie hätte das Licht eingeschaltet, wahrscheinlich am Schalter neben der Tür zur Halle. Sie hat außerdem gesagt, die Tür zum Garten wäre geschlossen gewesen. Wer hat sie zugemacht? Und war es die gleiche Person, die das Licht ausgeschaltet hat?«

»Verstanden, Sir«, antwortete Pearce.

»Prescott wird den Bewohnern der Reihencottages und dem Tankstellenbesitzer eine Menge Fragen stellen. Er ist bereits unterwegs. Er besucht die alte Dame, die offensichtlich so gerne ein Schwätzchen hält, eine gewisse Mrs Joss. Oh, und Miss Mitchell hat angerufen, gerade eben. Sie macht sich Sorgen, was hier passiert wäre. Ich habe ihr gesagt, Sie würden sie zurückrufen.«

»Oh, verdammt!«, sagte Markby resigniert.

»Ich habe vergessen, Meredith anzurufen!« Dann fiel ihm etwas ein, und er runzelte die Stirn.

»Die Tramperin!«, sagte er.

»Sie hat sich Gedanken gemacht wegen dieser Anhalterin, und wie es aussieht, völlig zu Recht!«

Inspector Pearce sah seinen Vorgesetzten verwirrt an, und Markby erklärte es ihm.

»Meredith hat gestern Abend eine junge Frau am Straßenrand aufgesammelt und bei Tudor Lodge abgesetzt. Das war irgendwann vor sieben Uhr. Carla sagt, außer Andrew wäre niemand im Haus gewesen, als sie gegen Viertel nach fünf vom Bahnhof nach Hause kam. Aber Carla ging direkt nach oben, nahm ein Schlafmittel und legte sich ins Bett. Wenn die junge Frau später kam, hat sie es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht bemerkt. Mrs Flack fand heute Morgen auf dem Küchentisch zwei benutzte Teetassen. Andrew hat für jemanden Tee gemacht, und dieser Jemand war nicht seine Frau. Eine Schande, dass Mrs Flack so eine effiziente Haushälterin ist und die Tassen sofort gespült hat!« Markby seufzte.

»Wir hätten möglicherweise einen ganzen Satz hervorragender Fingerabdrücke bekommen. Und jetzt, passen Sie auf! Die Haushälterin hat eine junge Frau in der Nähe von Tudor Lodge gesehen, später am Abend, gegen halb zehn. Sie kam aus der Stadt und marschierte zu Fuß über die Landstraße. Irene Flack sagt, die junge Frau wäre ganz plötzlich verschwunden gewesen, und es erscheint durchaus möglich, dass sie das Grundstück von Tudor Lodge betreten hat. Nun die Frage, die sich uns stellt – handelt es sich in beiden Fällen um die gleiche junge Frau, oder waren es zwei verschiedene Personen?«

»Es klingt nach einem vielversprechenden Ansatz«, sagte Pearce aufgeregt, eindeutig in der Hoffnung, dieser Fall würde sich nun ohne weitere großartige Schwierigkeiten aufklären lassen. Markby dämpfte seine Begeisterung.

»Sagen wir, es ist ein Rätsel. Entweder hat Penhallow zweimal unabhängig voneinander Besuch von verschiedenen jungen Damen erhalten, oder er wurde zweimal von der gleichen jungen Frau besucht. Falls es die gleiche junge Frau war – warum ist sie erst weggegangen, um anschließend zurückzukehren? Und woher kam sie zurück? Wie hat sie die Zeit zwischen den beiden Besuchen verbracht? Um wie viel Uhr verließ sie nach ihrem ersten Besuch das Haus? Und noch etwas – Meredith hatte den Eindruck, dass die Penhallows keinen Besuch von der jungen Frau erwarteten. Falls also Andrew einen Überraschungsbesuch erhielt, wie groß war seine Überraschung, als sie zum zweiten Mal vor seiner Tür stand? Hatte er mit ihr vereinbart, dass sie noch einmal zurückkam? Und falls ja, warum hat er sie nicht abgeholt? Er musste wissen, dass sie keine Transportmöglichkeit besaß. Oder ist er zu ihr gefahren, wo auch immer sie war, hat mit ihr besprochen, was auch immer es zu besprechen gab, an einem Ort, der für beide gleichermaßen bequem zu erreichen war?« Markby stieß ein ärgerliches Schnauben aus.

»Wir müssen sie finden, oder alle beide, falls es zwei Frauen sind, und wenn es nur deswegen ist, um sie von der Verdächtigenliste zu streichen. Also freuen Sie sich nicht zu früh, Dave. Vielleicht ist es keine heiße Spur, sondern nichts weiter als heiße Luft und Zeitverschwendung.« Tröstend fügte er hinzu:

»Ich stimme Ihnen zu, es ist möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich, dass die Anhalterin die letzte Person ist, die Andrew lebendig gesehen hat.«

»Und die letzte Person, die das Opfer sieht …«, murmelte Pearce mephistophelisch leise.

»Ganz recht. Man benötigt Kraft, um einen Schädel derart zu zertrümmern, aber eine gesunde junge Frau … warum nicht? Übrigens, ich möchte einstweilen noch nicht, dass die junge Frau gegenüber Mrs Penhallow erwähnt wird. Wir wollen zuerst versuchen, mehr über sie herauszufinden.« Er sah auf seine Uhr.

»Ich fahre jetzt zu Meredith nach Hause und finde heraus, ob sie sich noch an Einzelheiten über die junge Anhalterin erinnern kann. Sie hat mir zwar davon erzählt, aber um ehrlich zu sein, ich habe nicht besonders aufmerksam zugehört. Ich war damit beschäftigt, eine Flasche Wein zu öffnen.«

»Sie glauben, dieser Andrew Penhallow hatte möglicherweise eine Geliebte?«, stellte Pearce die offensichtliche Frage. Warum eigentlich nicht? Pearce hatte die Dinge unverblümt ausgesprochen. Markby dachte über diese Möglichkeit nach.

»Falls er eine hatte, dann wäre er nicht der Erste. All diese Reisen auf den Kontinent hätten ihm reichlich Gelegenheit verschafft. Aber setzen Sie um Himmels willen keine wilden Gerüchte in die Welt, Dave! Die Presse würde Wind davon bekommen, und Boulevardreporter, die sich mit aller Macht auf die heimliche Geliebte stürzen, sind das Letzte, was wir gebrauchen können. Die Zeitungen wären in null Komma nichts voll mit dem Skandal, und das würde nicht nur die Familie in extremen Stress bringen, sondern unsere Ermittlungen ganz empfindlich stören. Entweder findet die Presse die junge Frau vor uns, und bevor wir uns versehen, verkauft sie ihre Geschichte an den Meistbietenden und lässt sich oben ohne fotografieren, oder sie flüchtet Hals über Kopf und verlässt vielleicht sogar das Land … natürlich immer vorausgesetzt«, beendete Markby dieses düstere Szenario,

»diese Geliebte existiert tatsächlich.«

»Vielleicht könnten wir Mrs Penhallow unverfänglich fragen, ob sie Besuch erwartet haben oder ob der junge Penhallow, dieser Luke, eine Freundin hat?«, fragte Pearce vorsichtig. Sie wurden von einem lauten Ruf unterbrochen, und beide sahen auf. Quer über den Rasen kam ein sportlich aussehender junger Mann mit rotem Gesicht und wirren Haaren in Jeans auf sie zu marschiert. Seine kraftvollen Schultern spannten sich unter einem Rugby-T-Shirt.

»Und das ist, vermute ich, der junge Luke Penhallow«, murmelte Markby.

»Wie aufs Stichwort.«

»Hey, Sie da!« Luke Penhallow blieb vor den beiden stehen, die Beine leicht gespreizt, die Hände in die Hüften gestemmt, und starrte Markby und Pearce streitlustig an.

»Sind Sie von der Polizei? Was zur Hölle geht hier vor? Was ist mit meinem Vater passiert? Und wo ist meine Mutter?«

KAPITEL 6

»SO, BITTE sehr, mein Lieber«, sagte Mrs Joss und reichte Sergeant Prescott einen großen, rosengemusterten Becher mit trübem Tee. Wenn es etwas gab, das Prescott nicht ausstehen konnte, dann war es dicker, zu lange aufgewärmter Tee.

»Danke sehr, Madam«, sagte er und stellte den Becher in der vollen Absicht auf den Tisch, ihn fortan zu vergessen.

»Meine Güte«, sagte Mrs Joss mit einem heiseren Kichern,

»Madam, wie? Man lernt wirklich Manieren, lernt man bei der Polizei, nicht wahr?« Prescott fragte sich bereits jetzt, wie lange es dauern mochte, bis er Antworten auf seine wenigen Fragen erhielt, seine Warnung über das Ausplaudern von Einzelheiten gegenüber Presse oder Nachbarn loswerden und von hier verschwinden konnte. Der winzige Raum war bis unter die Decke angefüllt mit Möbeln und Nippes, und es war so gut wie unmöglich, sich zu bewegen, ohne eine Porzellanfigur in einem mit Volants besetzten Reifrock oder einen Spaniel aus Keramik umzustoßen. Jede freie Oberfläche und die Rücken sämtlicher Sessel waren mit gestickten und geklöppelten Deckchen verziert, und an den Wänden hingen Unmengen dekorativer Teller. Drei Katzen, zwei weiß gescheckte und eine gestreifte, schlummerten träge vor sich hin. Das weiße Paar lag aneinander gekuschelt auf dem Fenstersims, und die gestreifte kauerte neben dem Kamin, von wo aus sie Prescott mit einem bösartigen Blick aus gelben Augen musterte. Prescott, über einen Meter achtzig groß und von kräftiger Statur, kauerte unbehaglich auf der Kante seines Sessels und hatte die Ellbogen eng an die Seiten gelegt. Er kam sich wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen vor.

»Und wie gehen Ihre Ermittlungen voran?«, erkundigte sich Mrs Joss.

»Haben Sie den Täter schon gefunden?« Es war ganz offensichtlich, dass Mrs Joss sich prachtvoll amüsierte. Der Mord an Andrew Penhallow hatte ihrem stumpfen Alltag überraschend Abwechslung verliehen, so sehr wie bei anderen Leuten vielleicht der Hauptgewinn im Lotto. Der unübersehbare Mangel an Anteilnahme oder Trauer machten Prescott neugierig.

»Kannten Sie Mr Penhallow?«, fragte er.

»Das will ich wohl meinen!«, antwortete Mrs Joss.

»Er war mein Nachbar. Wir haben nicht miteinander geredet, abgesehen von ›guten Morgen‹ oder ›guten Tag‹ und so weiter. Er war so eine Art bedeutende Persönlichkeit, wissen Sie? Oder zumindest hielt er sich für eine, was ja nicht immer das Gleiche ist.« Prescott betrachtete sie missbilligend. Sie war so braun wie eine Walnuss, eine verschrumpelte alte Vettel mit eisengrauen Zöpfen, die über ihren Ohren in Schleifen gelegt waren. In ihren Ohrläppchen baumelten protzige goldene Ringe. Sie hatte einen Schnurrbart. In einem früheren Zeitalter hätte man sie ohne Zögern verbrannt, mit oder ohne dieses bösartig starrende Katzenviech, das ihn vom Kamin her ununterbrochen beobachtete. Prescott war sicher, dass sie irgendwo im Haus eine Kristallkugel und Tarotkarten versteckt hatte.

»Sind Sie ihm häufig begegnet?«

»Er war nicht oft da«, antwortete Mrs Joss mit entschieden finsterer Miene.

»War ständig irgendwo im Ausland unterwegs, mit diesen ›Missionen‹, oder wie das heißt.« Sie nickte, als hätte sie ihm ein Geheimnis anvertraut.

»Ich denke, Sie verwechseln da etwas«, entgegnete Prescott, der die folgende Information bereits aus dem Mund von Mrs Flack hatte.

»Er hat für die Europäische Kommission gearbeitet.«

»Das ist doch das Gleiche, oder nicht?«, brummte Mrs Joss.

»Nein«, sagte Prescott unverblümt.

»Er war ein Schreibtischhengst, ein wichtiger sogar, kein Geheimagent von O.N.K.E.L.« Ihre Miene hellte sich auf.

»Ich mag die alten Fernsehserien, wissen Sie? Heutzutage machen sie solche Filme nicht mehr. Aber wie ich schon sagte, er war kaum je zu Hause. Sie übrigens genauso wenig. Sie arbeitet in London. Merkwürdiges Arrangement, wenn Sie mich fragen. Nicht gerade das, was ich eine Ehe nennen würde. Als ich noch verheiratet war, haben mein Seliger und ich unter einem Dach gewohnt, bis er gestorben ist. Wenn er ins Ausland gefahren wär wie dieser Penhallow, immer wieder, dann hätt ich wissen wollen, was er dort zu suchen hat! Zugegeben, mein Seliger war im Krieg, aber das liegt nur daran, dass die Navy ihn eingezogen hat. Und ich wusste, wo er war. Auf einem Schiff. Ich hatte nie Grund, einen Groll auf ihn zu hegen«, sagte Mrs Joss in einem Tonfall, als wären ihre Worte ein unwiderlegbares Argument.

»Nicht bis zu dem Tag, an dem er zu seinem Schöpfer gerufen wurde, zwanzig Jahre war das her letzte Weihnachten. Er fiel von einem Baum.« Prescott verkniff sich die Frage, ob es ein Weihnachtsbaum gewesen war.

»Es war sein Beruf, wissen Sie?«, fuhr Mrs Joss fort, vielleicht in dem Gefühl, dass eine Erklärung erforderlich war.

»Er war Baumpfleger. Auf der Hauptstraße stand dieser gefährliche Baum, und ein großer Ast war heruntergebrochen. Also musste er in den Baum klettern und ihn abschneiden. Er ist abgerutscht, weil alles vereist und glatt war.«

»Das tut mir Leid«, sagte Prescott, in dem plötzlich Verlegenheit aufkeimte.

»Es ging schnell, schnell ging es mit ihm«, sagte Mrs Joss.

»Ich hoffe nur, dass es bei mir genauso schnell geht, wenn ich eines Tages an der Reihe bin. Wir hatten ein großartiges Begräbnis. Ich hoffe, meine Familie schenkt mir ein gutes Begräbnis. Sie wissen schon, jede Menge Blumen und ein anständiger Leichenschmaus hinterher.«

»Mrs Joss«, begann Prescott wieder auf das Thema hinzulenken,

»haben Sie in der vergangenen Nacht rein zufällig etwas gesehen oder gehört? Etwas Ungewöhnliches, meine ich?«

»Ah, warten Sie …«, antwortete sie.

»Ich kann zwar nicht sagen, dass es merkwürdig gewesen wäre …« Sie zögerte und runzelte die Stirn. Ihre goldenen Ohrringe baumelten hin und her. Prescott bemerkte, dass die Löcher in den welken, ledrigen Ohrläppchen vom Alter und dem Gewicht der Ringe zu dunklen Schlitzen geweitet waren.

»Ein Bremsenquietschen, wie von einem Wagen.« Prescott beugte sich vor.

»Wie meinen Sie das?« Sie gestikulierte mit ihrer braunen, grobknochigen Hand.

»Ich hab so ein Quietschen gehört, wie von einem Wagen, der plötzlich bremst. Ich dachte, es wären vielleicht diese Jugendlichen. Oder vielleicht war es auch bei Sawyers Tankstelle. Er hat eine Tür, die ganz widerlich quietscht. Ich hab ihm immer wieder gesagt, er soll sie mal ölen. Es ist schließlich nicht so, als hätt er nicht genug Öl, nicht wahr? Ganz bestimmt hat er das, in seiner Tankstelle. Er arbeitet bis spät abends, und bei dem Strom, den er verbraucht, ist es fast ein Wunder, dass es im Land noch genug davon gibt!«

»Um welche Zeit haben Sie dieses Quietschen gehört, Madam?«

»Oh, das war spät«, antwortete sie.

»Ich war bereits zu Bett gegangen. Ich gehe früh zu Bett, wissen Sie? Ich hab nur meine kleine Rente, das ist alles. Ich kann mir nicht leisten, die ganze Nacht Strom zu verbrauchen oder das Feuer im Kamin brennen zu lassen. Ich stehe mit der Sonne auf und gehe zu Bett, wenn sie untergeht. So wurde ich erzogen. Ich brauche keine Uhren!« Oh, großartig, dachte Prescott. Das ist jetzt wirklich sehr hilfreich.

»Ich habe gehört«, sagte er laut,

»Sie hätten während des Abends ungewöhnliche Aktivitäten drüben bei Tudor Lodge bemerkt?«

»Was denn, meinen Sie vielleicht die Wagen?«, fragte Mrs Joss, nachdem sie Prescotts Frage geziemend überdacht hatte.

»Wenn es das ist, was Sie gesehen haben?« Prescott hatte Mühe, die Geduld zu wahren.

»Ich hab überhaupt nichts gesehen«, antwortete Mrs Joss.

»Außer den Lichtern, heißt das. Ich hab schon im Bett gelegen. Aber wenn ein Wagen die Auffahrt zu diesem Haus runterfährt oder in die Auffahrt einbiegt, dann streichen die Scheinwerfer über mein Fenster. Ich hab zwei Schlafzimmerfenster, eins zur Seite hin und eins nach vorne. Das zur Seite hin zeigt nach Tudor Lodge. Diese Wagen, sie sind die ganze Nacht über die Auffahrt rauf- und runtergefahren.«

»Wie oft?«, fragte Prescott mit dem Stift in der Hand über dem offenen Notizbuch.

»Dutzende Male«, sagte Mrs Joss im Brustton der Überzeugung. Nachdem Prescott mehrfach nachgehakt hatte, wurde sie unsicherer und revidierte

»Dutzende Male« auf geschätzte dreioder viermal. Weiteres Nachfragen ergab, dass nicht alle Wagen über die Auffahrt zu Tudor Lodge gefahren waren. Nur zweimal war Mrs Joss vollkommen sicher, dass dies der Fall gewesen war.

»Aber da war auch noch Irene Flack«, führte Mrs Joss eifrig aus, um Prescott zu zeigen, dass auch andere Wagen unterwegs gewesen waren.

»Sie hat ein Auto, und sie trifft sich Donnerstagabend immer mit ihrem Strickzirkel. Ich hab sie zurückkommen hören, und ihre Scheinwerfer sind am Haus vorbeigestrichen. Ihr Wagen macht so ein eigenartiges Geräusch, so ein Klackediklonk. Ich schätze, irgendwas ist nicht in Ordnung damit.« Wertlos, dachte Prescott mit einem innerlichen Seufzer. Die Zeugenaussage der Alten war von vorn bis hinten wertlos. Sie konnte oder wollte keine genaue Uhrzeit nennen. Sie konnte nicht zählen. Sie konnte überhaupt nichts mit Bestimmtheit sagen. Seiner Einschätzung nach war sie dreimal von Fahrzeugen gestört worden. Kaum das rege Kommen und Gehen, von dem sie gesprochen hatte.

»Wenn Sie vielleicht lesen würden, was ich hier aufgeschrieben habe, Mrs Joss …« Erschöpft legte er ihr das Notizbuch mit den spärlichen Informationen hin, die er während des Gesprächs notiert hatte.

»Sagen Sie mir bitte, ob Sie einverstanden sind mit dem, was ich aufgeschrieben habe, und unterschreiben Sie unten, falls Sie einverstanden sind.« Sie bedachte ihn mit einem eigenartigen, fast scheuen Blick.

»Ich hab es nicht so mit Lesen und Schreiben, mein Lieber. Ich bin nie in der Schule gewesen.«

»Was denn, niemals?«, fragte Prescott unhöflich, doch die Überraschung war zu groß.

»Nicht einmal als kleines Mädchen?«

»Nein, mein Lieber. Wir waren immer unterwegs, auf der Straße. Meine Eltern waren fahrendes Volk.«

»Mrs Joss«, fragte Prescott vorsichtig,

»dürfte ich erfahren, wie alt Sie sind?«

»Dreiundachtzig«, antwortete sie.

»Glauben Sie nicht, ich wüsste nicht, wie alt ich bin, junger Mann! Ich hab elf Kinder, die noch am Leben sind. Zwei sind schon tot. Ich hab einundzwanzig Enkelkinder und drei Großenkel. Das ist nicht schlecht, oder? Für jemanden, der nie zur Schule gegangen ist?« Sie stieß ein heiseres Lachen aus. Unwillkürlich stimmte Prescott in ihr Lachen ein.

»Also schön, Madam, ich danke Ihnen für Ihre Zeit. Noch etwas, Sie werden nicht mit den Leuten auf der Straße über die Sache schwatzen, oder?« Er musste sie warnen, doch im Grunde genommen spielte es kaum eine Rolle – Mrs Joss war als Zeugin völlig wertlos, und sein Besuch bei ihr hatte nicht das Geringste zu Tage gefördert. Wie es der Zufall wollte, sollte er sich in dieser Hinsicht irren, doch das konnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Er steckte seinen Notizblock wieder ein und stand im Begriff zu gehen, als die Hintertür laut ins Schloss fiel und eine Stimme nach Mrs Joss rief.

»Oma?« Die Tür zum Wohnzimmer wurde geöffnet, und ein hagerer junger Mann von vielleicht zwanzig Jahren steckte den Kopf herein. Obwohl er eher schwächlich gebaut war, besaß er ein nassforsches Auftreten. Er trug Jeans und eine schwarze Bomberjacke mit silbernen Streifen auf den Ärmeln. Sein dunkles Haar glänzte von Gel und bildete einen Wald von Borsten, die abstanden wie die Stacheln eines Igels. Beim Anblick von Sergeant Prescott stutzte er für einen Sekundenbruchteil, und Prescott meinte bereits, er würde sich umdrehen und die Flucht ergreifen. Dann jedoch riss er sich zusammen und betrat misstrauisch das Zimmer.

»Hallo Oma«, sagte er und beugte sich zu ihr hinab, um ihr einen Kuss auf die ledrige Wange zu geben, ohne jedoch Prescott aus den Augen zu lassen.

»Hast einen neuen Hausfreund, wie?« Sie gackerte vor Vergnügen.

»Das ist mein Enkel Lemuel«, sagte sie stolz zu Prescott.

»Er ist der mittlere Sohn von meinem Dan.«

»Lee!« Der junge Mann errötete heftig, was seine aknegeplagte Haut noch unvorteilhafter aussehen ließ. Er wandte sich zu Prescott um.

»Ich heiße Lee, nicht Lem. Oma hat etwas Falsches gesagt!«

»Was ist denn so verkehrt an Lemuel?«, schnappte die Oma.

»Es war der Name deines Großvaters!«

»Nichts, Oma, schon gut.« Er lehnte sich mit übertrieben großspuriger Geste gegen den Tisch, um seine Verlegenheit zu überspielen, und verschränkte die Arme vor der Brust. Er trug eine kostspielige Armbanduhr. Prescott war sich der Tatsache bewusst, dass der Neuankömmling nicht nur wegen einer Meinungsverschiedenheit bezüglich Lee oder Lemuel so nervös reagierte. Der Grund für Lees Unruhe bestand vielmehr darin, dass er in Omas Besucher sofort einen Kriminalbeamten in Zivil erkannt hatte. Und was, sinnierte Prescott, was hast du angestellt, dass du dir beim ersten Anblick des Gesetzes vor Schiss fast in die Hosen machst? Und wo wir schon dabei sind, ich frage mich, wovon du diese Uhr bezahlt hast – falls du sie überhaupt bezahlt hast?

»Sie sind also Lee Joss?« Prescott war jung genug, um mit dem Besucher mitzufühlen wegen des Vornamens, mit dem gedankenlose Eltern ihn gestraft hatten. Lemuel, soll man das für möglich halten? Zigeunerfamilien hatten, wie Prescott wusste, eine Vorliebe für alte Namen. Aber Lemuel …? Lees Großmutter antwortete für ihn.

»Ich sagte Ihnen bereits, er ist Dans Junge. Sie wohnen gleich um die Ecke, im übernächsten Haus, neben Irene Flack.« Prescott spürte, wie sein Interesse erwachte.

»Sie wohnen nebenan? Das trifft sich gut – vielleicht haben Sie gestern Nacht etwas Ungewöhnliches gehört oder gesehen, Mr Joss?« In Lees Augen blitzte Panik auf.

»Ich habe gearbeitet gestern Abend! Ich bin Barmann im Crown, in der Innenstadt! Sie können dort nachfragen! Ich hab um halb sieben angefangen und die Bar um halb elf geschlossen. Danach musste ich noch aufräumen. Ich war nicht vor Mitternacht zu Hause.«

»Sind Sie zu Fuß gekommen?«, fragte Prescott. Lee sah ihn verblüfft an.

»Selbstverständlich nicht! Ich hab ein Motorrad.«

»Das hab ich auch gehört«, sagte seine Großmutter rasch.

»Das Ding ist schrecklich laut, wissen Sie, und ich weiß immer, wann Lemuel nach Hause kommt. Ich hör ihn jedes Mal, und ich hab ihn auch gestern Nacht gehört. Dieser Gentleman hier ist ein Polizist, Lemuel, und sein Name ist Sergeant Prescott. Er ist wegen dem armen Mr Penhallow hier.«

»Ach, deswegen«, sagte Lee, und seine Erleichterung war nicht zu übersehen.

»Ich habe davon gehört.« In seine Augen war ein Glitzern getreten, das Prescott nicht entging. Doch er war nicht sicher, was es zu bedeuten hatte. Einen Moment lang sah es fast danach aus, als wollte Lee Joss einen Witz zum Besten geben, doch dann schien er sich dagegen zu entscheiden.

»Er wurde abgemurkst, wie?« Nun, nachdem er wusste, dass Prescotts Ermittlungen nichts mit ihm oder seiner Familie zu tun hatten, gab er sich entspannt und selbstsicher.

»Woher haben Sie von Mr Penhallows Tod erfahren, Sir?«, fragte Prescott misstrauisch.

»Keine Ahnung«, lautete die gleichermaßen misstrauische Antwort.

»Die Leute in der Stadt reden im Augenblick von nichts anderem.« Doch das belustigte Glitzern stand wieder in seinen Augen, trotz seiner vorsichtigen Worte. Er macht mich zum Narren, dachte Prescott verärgert. Was weiß der kleine Mistkerl, was so verdammt lustig ist?

»Sie verdienen gutes Geld hinter der Theke im Crown, nicht wahr?«, fragte er. Prescott war kein unattraktiver Mann, doch sein Äußeres hatte wegen seiner Leidenschaft für das Rugby und den Amateurboxring im Lauf der Jahre gelitten und ihm das Aussehen eines Jahrmarktschlägers verliehen. Wenn er wollte, konnte er alarmierend finster dreinblicken. Beispielsweise jetzt. Das belustigte Glitzern in Lee Joss’ Augen erlosch.

»Einigermaßen, ja. Könnte besser sein. Warum fragen Sie danach?«

»Motorräder kosten Geld.«

»Ja, sicher. Mein Dad hat mir ein wenig dazu gegeben.« Er zuckte die Schultern und sah Prescott gespielt gleichgültig an.

»Was hat diese Frage mit dem guten alten Penhallow zu tun?«

»Dem guten alten Penhallow?«, hakte Prescott nach. Er wusste, dass er den Burschen in eine hübsche Falle gelockt hatte.

»Sie kannten ihn näher? Haben Sie häufiger mit Mr Penhallow zu tun gehabt?« Lee ließ die Arme sinken, die er die ganze Zeit über vor der Brust verschränkt gehalten hatte, und stieß sich vom Tisch ab.

»Nein, na ja, ich kannte ihn vom Sehen. Ein Dickerchen, und er sah immer so selbstzufrieden aus. Schätze, wegen seinem vielen Geld und allem.«

»Sie denken, Mr Penhallow war wohlhabend?«

»Wohlhabend? Hören Sie auf, Mann!«, platzte Lee heraus.

»Sehen Sie sich doch dieses Haus an, in dem die Penhallows wohnen! Und seine Frau ist dauernd in der Glotze. Sie verdient eine ganze Menge Kohle. Natürlich haben die Penhallows Geld, alle beide. Sie fahren schicke Autos, und er hat eine wirklich irrsinnig gut aussehende Freundin …« Er unterbrach sich, doch es war zu spät.

»Erzählen Sie mir mehr darüber«, sagte Prescott und klappte sein Notizbuch wieder auf.

»Erzählen Sie mir von Mr Penhallows Freundin. Haben Sie sie gesehen?«

»Ja, Lemuel!«, drängte die Großmutter ihren Enkel.

»Ich dachte mir die ganze Zeit, dass er irgendwo eine Geliebte haben muss! Erzähl uns alles, los!«

»Tut mir Leid wegen des Wochenendes«, sagte Alan Markby.

Als er vor ihrem winzigen Reihenhaus angehalten hatte, war die Tür aufgerissen worden, und sie war ihm die Treppe hinunter entgegengesprungen, bevor Markby Zeit gefunden hatte auszusteigen.

Zu dumm, dass sie vorher in Tudor Lodge angerufen und mit Pearce gesprochen hatte. Sie wusste bereits, dass irgendetwas passiert war, und er konnte wenig tun, außer ihr die schreckliche Wahrheit berichten. Nichtsdestotrotz bemühte er sich, den Schock zu verringern, indem er eine indirekte Taktik wählte. Er hätte es besser wissen müssen. Indirekte Taktiken funktionierten bei Meredith so gut wie nie, im Gegenteil, sie betrachtete sie als Zeitschinderei und eine Beleidigung für ihre Intelligenz.

»Oh, das Wochenende …« Sie wischte das Thema beiseite, als hätte es keine Bedeutung mehr.

»Was ist in Tudor Lodge passiert? Warum wollte Pearce mir nichts sagen?« Sie zupfte sich an einer glänzenden Locke und fixierte Markby aus besorgten haselnussbraunen Augen.

Er wählte seine Worte mit Bedacht, während er ihr ins Haus folgte.

»Es gab einen … Unfall … vergangene Nacht«, sagte er.

»Ich weiß, dass etwas Schlimmes passiert ist«, erwiderte Meredith ungeduldig.

»Hör auf, mich zu behandeln wie eine Idiotin, Alan!«

»Das würde ich niemals wagen. Ich fürchte, es betrifft Andrew. Mach Dave keinen Vorwurf. Er durfte dir am Telefon keine Einzelheiten verraten.«

»Wurde Andrew verletzt?«, fragte sie, doch als sie in seine Miene sah, wusste sie die Antwort schon. Sie sank auf den nächsten Stuhl.

»O nein.« Sie schloss die Augen.

»Er ist tot.« Sie schlug die Augen wieder auf und starrte Markby an.

»Er ist tot, nicht wahr, Alan?«

»Ja, und es tut mir Leid, dir sagen zu müssen, dass er gewaltsam starb.« Er zog einen Stuhl heran und setzte sich seufzend zu Meredith.

»Es ist allem Anschein nach schon in der Stadt herum. Nichts verbreitet sich so schnell wie schlechte Nachrichten. Ich schätze, irgendjemand hat beobachtet, wie die Polizei am frühen Morgen auf Tudor Lodge eintraf, gefolgt von einem Leichenwagen. Man muss kein Sherlock Holmes sein, um eins und eins zusammenzuzählen. Aber Gott allein weiß, wie die Presse so schnell Wind von der Geschichte bekommen hat.«

»Wann ist er gestorben?«, fragte Meredith düster.

»Das wissen wir noch nicht genau. Wahrscheinlich irgendwann letzte Nacht, am späten Abend vielleicht, zur Schlafengehenszeit. Er hatte einen Pyjama und einen Morgenmantel an, doch er wurde draußen gefunden, im Freien hinter dem Haus.« Ein Detail fiel ihm ein.

»Neben ihm lag eine Wärmflasche auf dem Boden.« Meredith lauschte seinem Bericht äußerlich gelassen, doch er wusste, dass sie zutiefst erschüttert war. Sie war blass im Gesicht, und er konnte den Puls an ihrem Hals sehen. Er stand auf und ging zum Barschrank, um ihr ein kleines Glas Brandy zu holen.

»Hier …« Sie nahm es entgegen, trank einen Schluck und stellte es ab.

»Hat er einen Einbrecher überrascht?«

»Das ist immer die erste Frage, die die Leute stellen«, sinnierte Markby.

»Wir kennen die Antwort noch nicht. Was die Todesursache angeht, werden wir nach der Obduktion mehr wissen. Im Augenblick steht lediglich fest, dass er mehrere Schläge auf den Kopf erhalten hat.«

»O mein Gott!«, sagte Meredith.

»Was ist mit Carla? Wurde sie verletzt? Hat sie den Einbrecher gesehen?«

»Sie wurde nicht verletzt, nein, aber sie leidet unter einem Schock. Sie hat weder etwas gesehen noch gehört. Sie hatte gestern Abend einen Migräneanfall und deswegen ein Schlafmittel genommen. Sie fand Andrew heute Morgen. Er lag im Pyjama draußen im Garten. Vielleicht ist er nach draußen gegangen, um ein Geräusch zu untersuchen.« Meredith runzelte die Stirn, während sie über das Gehörte nachdachte. Als sie schließlich wieder sprach, brachte ihn ihre Frage leicht aus der Fassung.

»Hat man eine Taschenlampe gefunden?«

»Nein, bis jetzt noch nicht.« Er musterte sie misstrauisch.

»Man geht doch nachts nicht nach draußen, im Dunkeln, um merkwürdige Geräusche zu untersuchen, ohne eine Taschenlampe oder einen Handscheinwerfer mitzunehmen«, sinnierte sie.

»Man geht doch nicht einfach mit nichts als einer Wärmflasche nach draußen!«

»Wir suchen gegenwärtig das Gelände ab.« Es reichte nicht, und er wusste es, daher fügte er ein wenig forscher hinzu:

»Hör zu, er wurde heute Morgen gefunden, gegen sieben Uhr fünfzehn, von seiner Frau, hinter dem Haus auf dem Rasen. Seine Frau erlitt einen hysterischen Anfall. Die Putzfrau kam gegen halb acht und fand beide. Sie rief den Arzt und alarmierte danach die Polizei. All die üblichen Dinge wurden getan, bevor der Leichnam weggebracht wurde, und wir haben erst jetzt Gelegenheit erhalten, das Grundstück Quadratzentimeter für Quadratzentimeter abzusuchen. Du kannst doch keine Wunder erwarten!«

»Ich erwarte doch auch gar keine Wunder! Ich frage doch lediglich, ob man eine Taschenlampe bei dem Toten gefunden hat!« Die Farbe kehrte schlagartig in ihr Gesicht zurück. Sie war wieder sie selbst, kämpferisch wie eh und je. Auf der einen Seite war er froh darüber, auf der anderen hätte er gut ohne das Verhör leben können.

»Wie steht es mit irgendeiner Waffe zur Selbstverteidigung, irgendetwas, das er mit in den Garten genommen haben könnte?«, fuhr Meredith fort.

»Wir haben bisher keinerlei Waffe gefunden. Du kannst doch nicht wissen, ob er eine Waffe zur Selbstverteidigung, wie du es nennst, mitgenommen hat!«

»Richtig. Er hatte eine Wärmflasche dabei, das hatte ich vergessen. Wenn du von einem nächtlichen Eindringling angegriffen wirst, dann wehr ihn mit einem elastischen Behälter voll heißen Wassers ab, vorzugsweise in einer Hülle aus warmem rotem oder elektrisch blauem Plüsch oder vielleicht sogar getarnt als Teddybär!« Alan lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.

»Weißt du, Sarkasmus steht dir überhaupt nicht. Mehr noch, wenn ich das sagen darf, er ist unter den gegebenen Umständen völlig unangemessen. Ich bin nämlich eigentlich nicht nur gekommen, um dir die schlechte Nachricht zu überbringen, sondern weil ich gedacht habe, du könntest mir vielleicht helfen. Aber es hilft mir nicht, wenn du herumsitzt und mir vorwirfst, dass ich meine Arbeit nicht mache!« Meredith war sich keiner Schuld bewusst.

»Ich mache dir überhaupt keine Vorwürfe! Ich möchte wissen, was mit Andrew passiert ist, das ist alles. Ich frage doch nur das Offensichtliche. Beispielsweise, ob ihr vielleicht Andrews Schusswaffe neben seinem Leichnam gefunden habt.«

»Schusswaffe?« Markby spürte, wie eine kalte Hand sein Herz umklammerte.

»Er hatte eine Schusswaffe?«

»Eine Schrotflinte. Er muss den Waffenschein auf der Wache in Bamford beantragt haben, also muss man dort Bescheid wissen! Einmal, als ich bei den Penhallows zu Besuch war, hatte der junge Luke das Gewehr auf dem Küchentisch auf einer Zeitung in sämtliche Einzelteile zerlegt, um es zu reinigen.« Sie schien all ihre Informationen für selbstverständlich zu halten und betrachtete ihn nun wie eine rechtschaffene Bürgerin, deren Steuern unverschämterweise an eine völlig inkompetente Polizei verschwendet wurden.

»Warte … einen Augenblick mal!« Er hob abwehrend die Hände und stoppte den Fluss ihrer Worte.

»Ich muss kurz telefonieren.« Wenige Sekunden später fauchte er in den Hörer:

»Schrotflinte! Oder vielleicht sogar mehrere, in einem Waffenschrank, Dave! Selbst wenn er verschlossen erscheint und es keine sichtbaren Spuren für ein unbefugtes Öffnen gibt, besorgen Sie sich den Schlüssel und schaffen Sie die Waffen aus dem Haus! Bringen Sie alles rüber zur Spurensicherung! Ja, ich weiß, dass er nicht erschossen wurde! Hören Sie, wir beten besser, dass die Dinger noch immer an ihrem Platz sind und nicht in der Hand irgendwelcher Ratten, die damit frei durch das Land streifen!«

»Eine Schusswaffe«, sagte er, nachdem er das Gespräch beendet hatte und zu Meredith zurückgekehrt war.

»Falls jemand gewusst hat, dass Waffen im Haus sind, hat er möglicherweise allein deswegen einen Einbruch für lohnenswert erachtet!« Er zögerte.

»Obwohl es keinerlei Hinweis auf ein gewaltsames Eindringen in das Haus selbst gibt, jedenfalls haben wir bisher keine Anhaltspunkte gefunden.« Meredith hatte während Alans Telefonat den Rest ihres Brandys getrunken.

»Und wie kann ich dir helfen?«, fragte sie nun.

»Du hast gesagt, du wärst hergekommen, weil ich dir vielleicht helfen könnte. Es tut mir Leid, wenn ich sarkastisch war. Es war wohl der Schock. Trotzdem, ich glaube eigentlich immer noch, dass meine Fragen logisch und berechtigt sind.« Sie strich sich mit beiden Händen über den Kopf und brachte ihre Haare in Form.

»Dann mal los, stell deine Fragen.«

»Du hast den falschen Job«, sagte er unbedacht.

»Du hättest wirklich Jura studieren sollen. Du hättest eine ausgezeichnete Anwältin abgegeben.« Jetzt blickte sie entschieden verärgert drein.

»Ich weiß selbst sehr gut, dass ich den falschen Beruf habe! Ich habe fünfzehn Jahre benötigt, um es herauszufinden, aber du kannst mir glauben, dass ich es jetzt weiß! Ich brauche niemanden, der mir das sagt!« Sie starrte düster in ihr leeres Brandyglas.

»Tut mir Leid, wenn es das ist, was dir zu schaffen macht. Aber vielleicht richtest du deinen forschenden Verstand jetzt auf meine Ermittlungen, bevor ich damit ebenfalls stecken bleibe. Erinnerst du dich noch an die junge Frau, die du gestern Abend mitgenommen hast?«

»Was hat das denn damit zu tun …?« In ihren braunen Augen schimmerte kurz so etwas wie Panik auf.

»Alan, sag mir jetzt nicht, dass sie … ich wusste es! Ich wusste es!« Sie rang frustriert die Hände.

»Hey, warte! Warte ein wenig ab, ja? Ich weiß nicht, ob die junge Frau irgendetwas mit der Sache zu tun hat! Aber ich möchte alles wissen, was gestern in und um Tudor Lodge herum passiert ist. Erzähl es mir noch einmal, jedes noch so kleine Detail. Alles, was du gesehen hast, alles, was sie gesagt hat, jeder Eindruck, den du von ihr gewonnen hast.« Meredith erzählte alles noch einmal, langsam und sorgfältig darauf achtend, dass sie nichts vergaß, von dem Augenblick an, als sie den Lastwagen an der Abfahrt nach Bamford gesehen hatte, bis zu dem Moment, an dem ihre schweigsame Beifahrerin in der Dunkelheit der Gärten von Tudor Lodge verschwunden war. Als sie geendet hatte, saßen beide für eine Weile schweigend da.

»Hmmm«, sagte Alan schließlich.

»Wenn ich nur wüsste …«

»Ich hätte in Tudor Lodge anrufen sollen, gleich nachdem ich zu Hause angekommen war, und mich überzeugen, ob alles in Ordnung ist«, sagte Meredith seufzend.

»Ich wusste es. Ich hatte das untrügliche Gefühl in den Knochen, dass mit dieser Frau irgendetwas nicht stimmt. Sie war wunderschön, sehr gut erzogen und ganz bestimmt in besseren Kreisen aufgewachsen. Ich nehme an, das hat mich abgeschreckt. Wäre sie eine schmuddelige Aussteigerin mit purpurnen Haaren und einem aufgenähten Totenschädel mit gekreuzten Knochen hinten auf der Jacke gewesen oder vielleicht auch nur eine hagere Jugendliche wie …« Sie brach ab, und Markby hob eine Augenbraue.

»Ich meine, diese Sorte von Person halt«, sagte Meredith. Doch er war sicher, dass sie etwas anderes hatte sagen wollen. Hagere Jugendliche wie …? Vielleicht würde sie es ihm später erzählen. Er hatte im Augenblick keine Zeit, sich über Dinge den Kopf zu zerbrechen, die sie ihm nicht sagen wollte.

»Die Sache ist doch die«, fuhr Meredith schließlich fort,

»dass ich wahrscheinlich ausgestiegen und mit ihr zusammen zur Tür von Tudor Lodge gegangen wäre, wenn sie abgerissen und heruntergekommen ausgesehen hätte. Wenn sie weniger selbstbewusst aufgetreten wäre. Ich hätte gesagt, ich nutze die Gelegenheit zu einem Besuch bei Freunden. Es wäre das Leichteste auf der Welt gewesen für mich, sie auf diese Weise zu überprüfen. Aber das habe ich nicht getan. Ich hielt ihr Benehmen für eigenartig, aber sie machte nicht den Eindruck einer Kriminellen. Das Aussehen kann täuschen, nicht wahr?« Ihre letzten Worte klangen zutiefst niedergeschlagen.

»Wir wissen nicht, ob sie kriminelle Absichten verfolgt hat«, erklärte Alan.

»Du könntest dir völlig umsonst Vorwürfe machen. Sie könnte eine völlig legitime Besucherin gewesen sein.« Meredith ignorierte seine Bemühungen, ihr Verhalten zu verteidigen. Sie ballte die Fäuste und trommelte damit auf ihre Knie.

»Ich hätte es besser wissen müssen! Ich hätte es wirklich besser wissen müssen! Ich habe schon mit Hunderten von Notfällen zu tun gehabt, und ich habe aufgehört zu zählen, mit wie vielen verschiedenen Charakteren. Ich hätte es wirklich besser wissen müssen und mich nicht von einer schicken Jacke und Oxford-Akzent hinters Licht führen lassen dürfen. Wie konnte ich nur so dumm sein!«

»Hey, du warst nicht dumm! Hör auf, dir selbst Vorwürfe zu machen! Carla tut das schon zur Genüge!« Er bemerkte ihren forschenden Blick und fuhr fort:

»Weil sie die ganze Nacht durchgeschlafen hat. Weil sie nicht wach geworden und nach draußen gestürzt ist, um ihrem Mann zu helfen.«

»Gütiger Gott, Carla! Sie muss völlig außer sich sein vor Kummer! Wer ist bei ihr, abgesehen von den Beamten? Ist die Putzfrau noch da?« Meredith hatte sich bereits halb vom Stuhl erhoben.

»Keine Sorge.« Er erzählte ihr, dass Luke Penhallow gerade angekommen war, als er im Begriff stand zu gehen.

»Falls du mit dem Gedanken spielst, nach Tudor Lodge zu fahren und Carla zu besuchen, dann schlage ich vor, damit bis morgen zu warten«, fügte er hinzu.

»Nicht mehr heute. Es sind bereits genug Leute, die auf dem Grundstück und im Haus herumtrampeln.« Das Telefon unterbrach mit schrillem Läuten ihre Unterhaltung.

»Das wird Dave sein, der sich wegen der Schrotflinte meldet.« Alan erhob sich und ging nach draußen in den Flur, um den Anruf entgegenzunehmen. Meredith blieb auf ihrem Stuhl sitzen und lauschte der einseitigen Unterredung.

»Was denn, zwei? Beide noch da? Gott sei Dank!«

»Amen«, murmelte sie vor sich hin. Doch Pearce hatte offensichtlich noch weitere Informationen. Sie schlugen ein wie eine Bombe.

»Das Crown?«, brüllte Alan in den Hörer, dass es durch den kleinen Flur hallte.

»Sie meinen diesen Gasthof in der Innenstadt? Ja, ich weiß, dass es Zimmer vermietet. Joss? Der Barmann? Wann? Und? Ist Prescott bereits zum Crown gefahren, um sie abzuholen? Warum denn nicht? Er soll auf dem schnellsten Weg hinfahren, bevor sie ihre Sachen packt und verschwindet, wenn es nicht schon zu spät ist!« Der Hörer krachte auf die Gabel. Markby tauchte wieder auf, packte seine alte Barbourjacke, die er über einen freien Stuhl geworfen hatte, und zwängte sich hinein.

»Ich muss weg! Wir haben möglicherweise deine Anhalterin gefunden! Falls sich der Barmann des Crown nicht geirrt hat, ist sie vergangene Nacht dort abgestiegen, gegen Viertel vor acht – und niemand anderes als Andrew Penhallow persönlich hat ihr Zimmer bezahlt!«

KAPITEL 7

ES WAR später Mittag, als Prescott das Crown erreichte. Er kannte das Lokal nicht und war noch nie in der Bar gewesen, um einen Drink zu nehmen. Das Crown erweckte einen etwas heruntergekommenen Eindruck, die Sorte von Hotel, in der den Gästen nicht allzu viele Fragen gestellt wurden. Vielleicht hatte Penhallow das Crown genau aus diesem Grund für seine Besucherin ausgewählt. Die Gäste verließen nach und nach das Restaurant. Die Gerüche von Bratfett, gekochtem Gemüse und Kaffee vermischten sich zu einem nicht unangenehmen Duft. Irgendwo in den Tiefen hinter dem Tresen klapperte Geschirr und diskutierten Männer mit erhobenen Stimmen. Rollwagen quietschten. All das erinnerte Prescott sehr deutlich daran, dass er noch nichts gegessen hatte. Er war ein Mann mit gesundem Appetit. Er überlegte kurz, ob er, sollte sich herausstellen, dass die junge Frau Reißaus genommen hatte, sich die Zeit zu einer kleinen Mahlzeit nehmen konnte, bevor er sich wieder zurückmeldete. Er beugte sich über den Tresen der Rezeption und erklärte einer schlanken jungen Frau, deren Aufmerksamkeit vollständig von der Untersuchung ihrer rosa lackierten Fingernägel in Anspruch genommen zu werden schien, den Zweck seines Hierseins. Die schicke Rezeptionistin wirkte unbeeindruckt und zuckte lediglich mit einer fein nachgezogenen Augenbraue.

»Dazu müssen Sie mit dem Manager sprechen«, sagte sie, als Prescott geendet hatte.

»Aber er ist nicht da. Er kommt erst nach zwei wieder.« Sie deutete mit einer pinkfarbenen Klaue auf die altmodische Wanduhr hinter Prescott.

»Nach zwei« bedeutete nach zwei auf dieser Uhr und keiner anderen auf der Welt. Prescott musste seine eigene Armbanduhr erst gar nicht bemühen. Die Zeiger auf dem emaillierten Zifferblatt der Uhr zeigten auf Viertel vor zwei. Das Bild von einem Sandwich tanzte verlockend vor Prescotts Augen. Doch zuerst die Arbeit. Eine Viertelstunde konnte von ausschlaggebender Bedeutung sein. Er verspürte nicht die geringste Lust, dem Superintendent erklären zu müssen, dass eine Verdächtige entkommen war, während er, Sergeant Prescott, mit vollem Mund und Schinkensandwichs in der Hand in einem Lokal gesessen und das Essen mit einem Bier hinuntergespült hatte. Darüber hinaus ärgerte er sich über das geringschätzige Benehmen der Rezeptionistin. Somit ignorierte er das klagende Rumpeln in seinem Magen.

»Ich hab eine Frage bezüglich eines Hotelgasts«, begann Prescott förmlich.

»Ich nehme an, Sie können mir verraten, was ich wissen muss?«

»Ich verhandel nicht mit der Polizei«, gab sie gleichermaßen förmlich zurück und parierte Prescotts Angriff, bevor er richtig begonnen hatte.

»Das macht der Manager.« Prescott gingen verschiedene Szenarien durch den Kopf, die ihn von seinem Vorhaben abzulenken drohten. Wie häufig kam denn die Polizei in dieses Etablissement, um Himmels willen, dass grundsätzlich sämtliche Fragen der Polizei durch den Manager beantwortet wurden? Welche Lasterhöhle verbarg sich hinter diesem heruntergekommenen Kleinstadtgasthof? Und was meinte dieses schnippische Frauenzimmer mit

»Ich verhandel nicht mit der Polizei«? Er war daran gewöhnt, vom aufsässigeren Teil der Jugend Bamfords mit Schimpfworten und Missachtung behandelt zu werden, doch dies hier ging ihm entschieden zu weit. Prescott war überzeugt, dass eine halbwegs gescheite junge Frau in einem Geschäftskostüm die Hüter des Gesetzes nicht nur nach Kräften unterstützen, sondern ihnen gegenüber geradezu dankbar sein sollte. Was war in ihren Augen nicht in Ordnung mit der Polizei, um Himmels willen? Der Blick, mit dem sie ihn bedachte, schien zu besagen, dass er ansteckend war.

»Zu schade, dass er nicht hier ist. Dann müssen Sie eben reichen«, sagte er bedeutsam und stellte mit Genugtuung fest, wie sie errötete und innerlich aufbegehrte. Was auch immer ihre Absicht gewesen sein mochte, sie hatte gewiss nicht nahe legen wollen, in irgendeiner Weise als Ersatz für den abwesenden Manager herzuhalten. Prescott hatte sich aufgerichtet und eine offizielle Haltung angenommen, die den Polizisten von Toytown alle Ehre gemacht hätte.

»Gestern Abend sind ein Mann in mittlerem Alter und eine junge Frau hier angekommen und haben ein Zimmer gebucht«, begann er mit volltönender Stimme.

»Hatten Sie um diese Zeit Dienst?« Er erkannte die Antwort im plötzlichen verstehenden Aufleuchten ihrer stark geschminkten Augen. Sie beugte sich vor und erklärte:

»Schmutziger alter Mistkerl!«

»Ich bitte um Verzeihung?« Eine Sekunde lang glaubte Prescott, sie meinte ihn, und seine majestätische Haltung kam ihm abhanden.

»Der alte Sack. Ich wusste, dass er nichts Gutes im Schilde führte, selbst wenn er nicht im Hotel geblieben ist. Es war ungefähr Viertel vor acht, kurz bevor ich Feierabend hatte. Er hat ein Zimmer für sie gebucht und sie nach oben gebracht. Er ist nicht lange geblieben – nicht lange genug, wenn Sie verstehen, was ich meine?« Sie bedachte ihn mit einem vielsagenden Blick. Prescott spürte, wie er zu seiner eigenen Schande selbst errötete. Er flüchtete sich in neuerliche Schroffheit.

»Welchen Namen hat er genannt? Können Sie den Mann beschreiben? Oder die Frau?«

»Selbstverständlich kann ich! Ein dicker Kerl namens Penhallow … hier.« Sie fischte eine Karteikarte hervor.

»Hier ist seine Registrierung. Er hat gesagt, dass alles auf seine Kreditkarte geht. Das hat er bestimmt nicht ohne Grund getan, meinen Sie nicht? Er muss Geld haben, schätze ich, weil er nach überhaupt nichts ausgesehen hat, und jung war er auch nicht. Sie ist jung.« Die Rezeptionistin klang missbilligend. Es war nicht die vermutliche Unmoral, an der sie sich rieb, sondern der offensichtliche Altersunterschied des heimlichen Pärchens. Prescott war die Verwendung der Gegenwartsform nicht entgangen.

»Sie ist immer noch hier?« Er war nicht im Stande, den plötzlichen erwachenden Eifer oder die Überraschung aus seiner Stimme zu halten. Er hatte fest geglaubt, dass die geheimnisvolle junge Frau inzwischen das Weite gesucht hätte.

»Soweit ich weiß, ja. Wollen Sie ihren Namen, oder kennen Sie ihn bereits?«

»Wie heißt sie?«, schnappte Prescott.

»Schon gut, schon gut, regen Sie sich nicht auf. Es ist ein merkwürdiger Name. Drago. Hab ich noch nie vorher gehört, so einen Namen. Sie vielleicht? Er hat zwar die Anmeldung ausgefüllt, Penhallow, verstehen Sie? Hier …« Sie tippte auf die Karteikarte.

»Aber die junge Frau hat mit dem Nachtportier gesprochen, als sie gestern Abend ausgegangen ist. Sie hat ihm ihren Namen genannt, und sie wollte wissen, wie sie wieder ins Hotel kommt, wenn es spät wird.«

»Um wie viel Uhr war das?«, wollte Prescott wissen.

»Um wie viel Uhr ist sie ausgegangen?«

»Da müssen Sie Andy fragen, den Nachtportier. Er ist im Augenblick nicht da. Ich hab um acht Uhr Feierabend, also wird es später gewesen sein.« Prescott warf einen Blick zur Treppe, die im Halbdunkel lag.

»Welche Zimmernummer? Ist sie im Augenblick oben, wissen Sie das?«

»Vielleicht ist sie zum Mittagessen runtergekommen. Sie sollten zuerst einen Blick in den Speisesaal werfen. Sie können sie nicht übersehen, sie hat eine richtige Mähne rotblonder Haare. Ich weiß nicht, ob es ihre natürliche Haarfarbe ist, möglich wäre es. Die Farbe, meine ich.« Die Rezeptionistin verstummte, während sie darüber nachdachte, ob die Haare der jungen Frau möglicherweise gefärbt waren. Prescott sah ihr an, dass diese Überlegung für sie von größerem Interesse war als alles, was die Polizei ins Hotel geführt haben konnte. Er räusperte sich eindringlich, und zögernd kehrte sie aus ihren Gedanken in die Gegenwart zurück.

»Wenn sie nicht im Speisesaal sitzt, ist sie wahrscheinlich noch oben auf dem Zimmer. Nummer sechs. Möchten Sie, dass ich anrufe?«

»Nein«, sagte Prescott, als die Rezeptionistin die Hand nach dem Telefon ausstreckte.

»Nein danke, ich werde mich selbst anmelden.«

Ein kurzer Blick in den Speisesaal und ein weiterer durch die Tür zur Empfangshalle. Keine junge Frau mit goldener Löwenmähne zu sehen. Ein Handelsvertreter stand in der Empfangshalle und studierte eine Straßenkarte, und drei mürrisch dreinblickende Gäste saßen im Speisesaal über ihrem Mittagessen.

Prescott stieg die Treppe hinauf. Die Stufen knarrten unter seinem Gewicht. Vermutlich war das Haus bereits sehr alt. Die Wände waren mit vergilbten Anaglyphen behängt. Der Teppich auf den Stufen war ausgetreten und hing stellenweise in Fransen, nicht ungefährlich für einen unaufmerksamen Gast. Die erste Tür des Ganges, in dem Prescott herauskam, trug die Aufschrift

»Bad«. Er drückte probehalber die Klinke herunter. Die Tür schwang auf und gab den Blick frei auf eine große, antike Badewanne, ein Handtuchregal aus Holz und einen weiß gestrichenen Stuhl. Er schnüffelte prüfend die Luft ein. Es roch schwach nach Badezusatz oder einer parfümierten Seife.

Die Tür zu Zimmer Nummer vier stand offen und ließ einen schmalen Streifen Licht in den ansonsten düsteren Korridor. Ein Zimmermädchen war mit dem Abziehen des Bettes beschäftigt. Sie blickte ohne sichtbare Neugier auf, als Prescott an der Tür vorbeiging. Das Zimmer erweckte keinen sonderlich einladenden Eindruck. Ein Bett, in dem man eine Nacht ausschlafen konnte, zugegeben, aber alles andere als luxuriös. Das Crown schien ein merkwürdiger Ort für ein geplantes Stelldichein. Vermutlich hatte Bamford in dieser Hinsicht nicht viel zu bieten.

Er erreichte die Tür von Zimmer Nummer sechs und blieb zögernd stehen. Durch die Türpaneele hörte er leise einen Fernseher laufen. Sie saß doch nicht etwa vor dem Fernseher? Er würde sie nichtsahnend überraschen. Prescott grinste und klopfte an.

»Kommen Sie später wieder!«, rief eine Frauenstimme.

Er klopfte erneut und stellte sich vor, wie sie ärgerlich fauchte. Schritte näherten sich, und die Tür wurde aufgerissen. Prescott kannte den Ausdruck coup de foudre nicht, doch genau das war es, was ihm nun widerfuhr. Sie war die wunderschönste junge Frau, die er jemals gesehen hatte. Sie war jünger als erwartet, höchstens neunzehn. Ihre unglaubliche Mähne, die jedermann im Gedächtnis zu bleiben schien, fiel in prachtvollen Locken über ihre Schultern. Sie sah aus wie ein präraphaelitischer Engel. Sie besaß große graue Augen mit dunklen Wimpern, und ihr Augenaufschlag sandte Schauer über sein Rückgrat.

»Was gibt’s?«, fragte sie kalt. Prescott wurde bewusst, dass er sie anstarrte. Er kramte nach seinem Dienstausweis.

»Polizei …«, stammelte er schwach.

»Äh, mein Name ist Sergeant Prescott …« Sie würdigte den Ausweis keines Blickes. Wahrscheinlich hatte er

»Polizei« auf die Stirn gestempelt.

»Und? Was gibt’s?«, wiederholte sie ihre Frage.

»Äh, Miss Drago …?« Er hatte Mühe, sich zusammenzureißen und die Initiative zu ergreifen.

»Ja«, sagte sie und vernichtete mit diesem einen Wort seine Bemühungen. Ein Hauch von Ungeduld in ihrer Stimme zeigte an, dass er offensichtlich ganz besonders langsam war.

»Ich würde gerne mit Ihnen reden«, murmelte er. O Gott, nein!, dachte er gequält. Hätte ich das nicht besser sagen können? Wahrscheinlich wollte jeder Mann auf der Welt ununterbrochen mit ihr reden. Er fühlte sich unbeholfen, dumm und albern.

»Worüber?« Sie hob die Augenbrauen. In ihren grauen Augen schimmerte eine Spur von Neugier. Wenigstens hatte sie ihm nicht einfach die Tür vor der Nase zugeknallt, als wäre er einer von vielen unbeholfenen Tölpeln, die ihre Bekanntschaft suchten.

»Es geht um Mr Penhallow«, sagte Prescott und machte einen unwiderruflichen Schritt nach vorn. Bis zu diesem Zeitpunkt war der Leichnam im Garten von Tudor Lodge nichts weiter als der Gegenstand einer Morduntersuchung gewesen. Prescott hatte Andrew Penhallow nicht persönlich gekannt. Und mit einem Toten konnte man keine Bekanntschaft mehr schließen. Er hatte den üblichen dezenten Respekt vor dem Toten und Mitleid mit den Angehörigen des Opfers empfunden, doch das änderte sich nun alles mit einem Schlag. Nun, ganz unvermittelt und sogar noch im Tod, war Andrew Penhallow zu einem Rivalen geworden. In Prescotts Brust tobte ein Widerstreit von Gefühlen, als er erkannte, dass Penhallow dieser wunderschönen Frau nahe gestanden hatte, so nah, wie man sich möglicherweise nur stehen konnte. Penhallow hatte sie in dieser Absteige von einem Hotel einquartiert, in dieser elenden Umgebung, und das, obwohl sie nur das Allerbeste verdiente. Es war wohl nur ein weiteres Stelldichein von vielen in einem kleinen, unauffälligen Hotel gewesen. Und diese wundervolle Frau hatte ihm als Gegenleistung ihre Jugend und ihre Lieblichkeit geschenkt. Die Ungleichheit dieses Austauschs erschien Prescott nahezu kriminell. In diesem Augenblick hasste er Andrew Penhallow. Doch in den Augen der jungen Frau leuchtete eine weitere Emotion auf.

»Er hat die Polizei geschickt, um mich loszuwerden?«, stieß sie ungläubig hervor. Sie schien sich zu winden bei dem Gedanken, doch eine Sekunde später warf sie ihre sonnenverbrannte Mähne zurück und verwandelte sich in eine Walküre. Mit blitzenden Augen rückte sie gegen Prescott vor, der in den Korridor zurückwich.

»Er hat Sie geschickt? Er hat Sie geschickt, um mir zu sagen, dass ich ihn in Ruhe lassen soll? Ist das der Grund, aus dem er nicht hergekommen ist heute Morgen, wie er es versprochen hat?« Die unglaubliche Verachtung in ihrer Stimme brach den Bann, unter dem Prescott vom ersten Augenblick an gestanden hatte. Er war zwar noch immer von ihrer Persönlichkeit überwältigt, doch seine Ausbildung und sein Training kamen ihm zu Hilfe. Es verwandelte ihn zurück in einen Polizeibeamten in Ausübung seiner Pflicht und schützte ihn vor den vernichtenden Auswirkungen ihrer Verachtung.

»Miss Drago«, sagte er standhaft und mit fester Stimme.

»Darf ich hereinkommen? Ich muss mit Ihnen reden. Wir können natürlich auch nach unten gehen und uns in der Lounge unterhalten, doch es wäre wirklich besser, wenn wir unter vier Augen sprechen könnten.« Das Zimmermädchen war beim Klang ihrer erhobenen Stimmen aus Nummer vier gekommen und stand nun im Gang, ein Bündel Laken auf dem Arm, und gaffte sie an. Die junge Frau sah zu dem Zimmermädchen, dann zu Prescott.

»Also gut«, sagte sie ärgerlich.

»Kommen Sie rein, wenn es denn unbedingt sein muss. Ich habe nicht die Absicht, mich hier zu einer Attraktion für Gaffer zu machen.« Zimmer Nummer sechs war genauso trostlos wie Nummer vier, was Mobiliar und Einrichtung anging, doch es erstrahlte unter ihrer Anwesenheit. Sie ging zum Fernseher und schaltete den Apparat ab. Dann wandte sie sich um, warf sich in den einzigen Sessel, schlug die Beine übereinander, legte die Arme auf die Lehnen und sah Prescott an. Sie lud ihn nicht ein, Platz zu nehmen. Prescott schloss übertrieben vorsichtig die Tür und sah sich um. Unglücklicherweise nahm das breite Doppelbett den größten Teil des Raumes ein, und so sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht, daran vorbeizusehen. Neben der Kommode stand ein kleiner Holzstuhl, und darauf ließ er sich nieder. Er wusste, dass er lächerlich aussah, schlimmer noch als im Wohnzimmer von Mrs Joss. Sie sagte nichts und – Gott sei Dank! – lachte auch nicht. Verlegen erkundigte er sich:

»Dürfte ich bitte Ihren vollen Namen erfahren?«

»Katherine Louise Drago. Wollen Sie das aufschreiben?« Sie hob die Augenbrauen, und um ihre Mundwinkel war eine Spur von Zucken. Prescott, der nach seinem Notizblock gekramt hatte, lief puterrot an.

»Können Sie sich ausweisen, Miss Drago?«, fragte er. Sie dachte nach.

»Nein. Warum sollte ich mich ausweisen müssen?«

»Haben Sie keinen Führerschein dabei? Einen an Sie adressierten Brief?« Sie blickte sich im Zimmer um und deutete auf ihre khakifarbene Umhängetasche, die in einer Ecke lag.

»Vielleicht ist da etwas Geeignetes drin.« Prescott spürte, wie er angesichts ihrer aufreizenden Lässigkeit ärgerlich wurde.

»Würden Sie bitte nachsehen?«, verlangte er. Sie stand auf und holte die Tasche. Nachdem sie eine Weile darin herumgekramt hatte, brachte sie einen kleinen Ausweis mit dem Blutspenderlogo zum Vorschein. Prescott nahm ihn entgegen. Es gab keine Anschrift, doch der Name der Inhaberin lautete Katherine Drago, und sie spendete regelmäßig Blut. Prescott gab ihr den Ausweis zurück.

»Dürfte ich fragen, was Sie hier in Bamford machen, Miss Drago?«

»Selbstverständlich dürfen Sie«, erwiderte sie zuckersüß.

»Und ich darf mich gleichermaßen weigern, Ihre Frage zu beantworten.« Sie ließ den Blutspenderpass in ihre Tasche fallen.

»Warum sollten Sie das tun, Miss Drago?«

»Warum sollte Sie das etwas angehen, Sergeant … ich habe Ihren Namen vergessen?«

»Prescott«, sagte er schwitzend.

»Nun, Sergeant Prescott, ich bin in Bamford, weil ich etwas zu erledigen habe, das niemanden etwas angeht außer mir selbst.« Falsch!, dachte er.

»Wenn ich recht informiert bin, sind Sie gestern Abend zusammen mit Mr Andrew Penhallow hier angekommen.« Sie antwortete nicht. Stattdessen blickte sie ihm geradewegs in die Augen, als hätte er einen gewaltigen gesellschaftlichen Fauxpas begangen. Dies, dachte Prescott streng, ist auf jeden Fall eine Zeugin, und womöglich sogar eine Tatverdächtige in einem Mordfall. Er versuchte sich zu wappnen, doch wie sehr er sich auch anstrengte, sein Herz weigerte sich zu gehorchen. Sie konnte unmöglich mit dem Mord zu tun haben, oder doch? Nicht dieses wundervolle Wesen!

»Wie lange kennen Sie Mr Penhallow bereits?« Er stellte die Frage nicht nur für das Protokoll, sondern auch für sich. Sie antwortete nicht sogleich. Er merkte, wie sich ihre Haltung änderte, wie sie misstrauischer wurde. Sie hob eine Hand und strich sich eine Strähne ihrer langen goldenen Haare aus dem Gesicht, während sie ihn unablässig aus grauen Augen musterte. Er erkannte ihre Taktik; sie versuchte sich Zeit zu verschaffen, und das ermutigte und entmutigte ihn zugleich. Sie suchte nach Ausflüchten, was darauf hindeutete, dass sie etwas zu verbergen hatte. Auf der anderen Seite – was hatte sie zu verbergen? Doch wohl keine Schuld? Prescott betete fast, dass es keine Schuld war.

»Ich glaube nicht, dass ich irgendetwas zu sagen habe, bevor Sie mir den Grund für Ihre Fragen nennen«, sagte sie schließlich. Nun war Prescott an der Reihe zu schweigen. Sie zappelte, und plötzlich fiel ihre Selbstkontrolle von ihr ab. Sie beugte sich vor, und ihre grauen Augen blitzten leidenschaftlich.

»Hat er Sie geschickt? Hat er die Polizei angerufen und Sie auf mich angesetzt? Ich habe nichts Illegales getan! Ich bin eine freie Bürgerin und kann gehen, wohin ich verdammt nochmal will!«

»Aber Sie befinden sich in einem Hotelzimmer, das Mr Penhallow angemietet hat«, beharrte Prescott.

»Und das, fürchte ich, ist von großem Interesse für uns.« Er steckte seinen Notizblock ein und erhob sich.

»Es tut mir Leid, dass Sie nicht kooperieren möchten, Miss Drago. Ich fürchte, ich muss Sie bitten, mit mir zu kommen.«

»Und ich weigere mich!« Sie lehnte sich wieder zurück.

»Ich muss nicht mit Ihnen gehen. Die Polizei zur Wache zu begleiten ist eine rein freiwillige Angelegenheit. Es reicht aus, wenn Sie wissen, wo Sie mich finden können. Sie können mich hier finden. Es sei denn natürlich, Sie verhaften mich, das ist etwas anderes. Verhaften Sie mich?«

»Bitte«, flehte Prescott.

»Machen Sie die Dinge nicht noch schwerer, als sie ohnehin schon sind, und verschwenden Sie nicht meine Zeit. Es geht um eine Ermittlung, und Sie könnten in ziemlich großen Schwierigkeiten stecken, Miss Drago.« Sie war gescheit und brauchte nicht mehr als einen Hinweis. Sie lief rot an, dann erbleichte sie.

»Was ist passiert?«, flüsterte sie.

»Was ist mit ihm?«

»Warten Sie bitte, bis wir auf der …« Sie sprang aus dem Sessel und warf sich auf ihn. Sie hämmerte mit beiden Fäusten gegen seine Brust.

»Verdammter dummer großer Ochse von einem Bullen! Was ist mit ihm? Was ist passiert?« Prescott packte ihre Handgelenke und hielt sie von sich. Sie kämpfte gegen ihn an, dann entspannte sie sich, obwohl sie immer noch schwer atmete.

»Wenn ich mit Ihnen komme«, ächzte sie rau durch ein Gewirr blonder Strähnen,

»werden Sie mir dann genau erzählen, was passiert ist?«

»Das werden Superintendent Markby und Inspector Pearce machen, Ma’am«, erwiderte Prescott unglücklich. Er sah auf ihre Handgelenke und bemerkte voller Bestürzung die roten Abdrücke seiner Finger darauf.

»Ich hoffe, ich habe Ihnen nicht wehgetan?«, murmelte er.

»Oh, um Gottes willen!«, rief sie. Sie wandte sich um, packte ihren Umhängebeutel und warf ihn sich über die Schulter.

»Also schön, gehen wir! Führen Sie mich zu Ihrem einheimischen Verlies! Warum stehen wir noch länger hier herum?«

Weil die Bamforder Wache näher lag als das Bezirkskommissariat, hatte man Kate Drago zur ersten Befragung dorthin gebracht. Inspector Pearce führte die Vernehmung durch, doch Markby saß als Beobachter mit im Zimmer.

Prescott, der das Mädchen zur Wache gebracht hatte, hielt sich unglücklich im Hintergrund. Er zeigte eine Neigung, sich schützend vor die Zeugin zu stellen, was dem Superintendent nicht verborgen geblieben war. Er musste diese Sache im Auge behalten. Junge Polizeibeamte waren genauso anfällig wie jeder andere junge Mann, und dieses Mädchen sah umwerfend gut aus.

Markby sah sich im Verhörzimmer um. Es war ihm vertraut aus seiner Zeit in Bamford. Kritisch bemerkte er, dass ein Anstrich nicht schaden konnte. Es war schön, wieder hier zu sein, auch wenn die Umstände alles andere als glücklich waren. Er wandte sich wieder der Vernehmung und Kate Drago zu. Sie war nach außen hin völlig unbeeindruckt von ihrer Umgebung oder den vielen Beamten um sie herum. Ihre selbstbewusste Haltung weckte Markbys Neugier. Konnte jemand tatsächlich so gleichgültig sein angesichts der Tatsache, dass er zur Vernehmung auf die Wache gebracht worden war? Keinerlei Anzeichen von Nervosität, während sie von zahlreichen Beamten beobachtet wurde? Markby hielt es nicht für normal. Vielleicht war es lediglich eine Fassade? Falls ja, dann war sie eine vollendete Schauspielerin. Er warf einen verstohlenen Blick auf seine Uhr. Sie warteten auf eine weibliche Beamtin, die der Vernehmung beiwohnen sollte. Es würde wahrscheinlich eine unangenehme Erfahrung werden; Miss Drago, so hatte Prescott angedeutet, war schwierig zu befragen. Wenn sie erfuhr, dass Penhallow tot war – vorausgesetzt, sie wusste es nicht längst –, würde sie vielleicht zusammenbrechen. Diese eiskalte Kontrolle zerbrach seiner Erfahrung nach manchmal mit erschreckenden Resultaten.

Sie hatten ihre Identität überprüft. Sie hieß Katherine Drago, genannt Kate, und wohnte in London. Sie war Studentin an einem College für Mode und Design. Sie war neunzehn Jahre alt und obwohl rein biologisch betrachtet erwachsen, hatte man sie gefragt, ob sie wollte, dass eine Freundin oder Verwandte kontaktiert und hergebracht werden sollte. Sie hatte die Frage mit einem entschiedenen Nein beantwortet.

Die Tür öffnete sich, und die weibliche Beamtin trat ein. Jetzt wurde es in dem kleinen Vernehmungszimmer allmählich eng.

»In Ordnung, Sergeant«, sagte Pearce zu Prescott.

»Sie können jetzt gehen.« Für einen Augenblick glaubte Markby, der junge Beamte würde tatsächlich einen Einwand erheben. Doch dann ging er wortlos, nicht ohne einen letzten Blick zu Kate Drago, die ihn ignorierte. Ach du meine Güte, dachte Markby. Amors Pfeil, das heimtückische kleine Ding, hat die harte Haut von Sergeant Prescott durchbohrt. Er würde das überwinden müssen, oder Markby musste ihn von dem Fall abziehen. Die Beamtin nahm Platz. Kate Drago warf ihr einen flüchtigen Blick zu und wandte sich dann an Inspector Pearce.

»Nachdem Sie jetzt jeden hier haben, den Sie brauchen, können Sie mir ja wohl endlich sagen, was das alles zu bedeuten hat!«

»Wir ermitteln«, begann Pearce vorsichtig, nachdem er sich und die übrigen Beamten im Zimmer für das Bandprotokoll und die junge Frau vorgestellt hatte,

»in einer Angelegenheit, die sich im Verlauf der gestrigen Nacht in Tudor Lodge, Bamford ereignet hat. Ihre Beschreibung passt zu der einer jungen Frau, die per Anhalter nach Bamford gekommen und zwischen sechs und sieben Uhr gestern Abend vor Tudor Lodge aus dem mitnehmenden Fahrzeug ausgestiegen ist. Später sind Sie im Crown Hotel abgestiegen, in Begleitung von Andrew Penhallow, dem Besitzer und Bewohner von Tudor Lodge …«

»Er hat das Zimmer für mich gemietet und mich dann dort sitzen lassen!«, unterbrach sie Pearces Redefluss. Unbeeindruckt fuhr Pearce fort:

»Wir würden gerne von Ihnen erfahren, in welcher Beziehung Sie zu Mr Penhallow standen, warum Sie ihn besucht haben und mit welcher Absicht Sie in Bamford geblieben sind.« Im Verhörzimmer wurde es so still, dass Markby das Ticken der Uhr an der Wand und das leise Atmen der Polizeibeamtin hören konnte, die nicht weit von ihm entfernt saß.

»Warum wollen Sie wissen«, fragte Kate Drago fast unhörbar leise,

»warum wollen Sie wissen, in welcher Beziehung ich zu Mr Penhallow stand? Warum nicht, in welcher Beziehung ich zu ihm stehe? Was ist mit ihm passiert?«

»Alles zu seiner Zeit«, entgegnete Pearce.

»Warum erzählen Sie uns nicht zuerst, was sich letzte Nacht ereignet hat?« Sie sprang von ihrem Stuhl auf und beugte sich zu Pearce vor, der unwillkürlich zurückschreckte.

»Wagen Sie es nicht, mich zu bevormunden! Ihr Sergeant hat angedeutet, dass irgendetwas mit ihm passiert ist, und ich werde kein Wort sagen, bevor ich nicht erfahre, was das ist! Ist er verletzt? Ist er im Krankenhaus?« Pearce antwortete nicht, und sie sank langsam auf ihren Stuhl zurück. Sämtliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft auf der Wache wirkte sie verängstigt. Ihre grauen Augen waren riesig.

»Ist er … ist er …?« Pearce war rot angelaufen. Er straffte seine Krawatte und rollte die Schultern, bis sein Tweedjackett wieder richtig saß.

»Mr Penhallow ist tot«, verkündete er vielleicht ein wenig zu energisch. Sie schwankte auf dem Stuhl. Die Polizistin sprang auf. Die Bewegung schien die Zeugin zur Besinnung zu bringen, denn sie hob abwehrend die Hand und bedeutete der Beamtin, zu bleiben, wo sie war.

»Schon gut. Mir fehlt nichts.« Aber so siehst du nicht aus, dachte Markby. In welcher Beziehung sie auch immer zu dem verstorbenen Andrew Penhallow gestanden hatte – es war eine sehr enge gewesen. Pearce dachte offensichtlich das Gleiche.

»Möchten Sie vielleicht einen Schluck Wasser, Miss Drago?«, fragte Pearce.

»Die Nachricht scheint Sie sehr mitgenommen zu haben.«

»Selbstverständlich hat sie mich mitgenommen, verdammt!«, platzte sie heraus. Es war fast ein Schreien, das die angespannte Atmosphäre durchschnitt. Sie beugte sich über den Tisch, und ihre Haare fielen nach vorn.

»Sie verstehen das nicht! Hören Sie, Sie müssen sich irren! Er kann nicht tot sein! Ich muss ihn sehen! Ich muss mit ihm reden! Wir haben nicht … wir hatten noch nicht alles besprochen, und es gibt so viel …« Die Worte sprudelten jetzt förmlich aus ihr, doch dann stockte sie, als hätte sie die Sprache verloren.

»Ich fürchte, er ist tot, Miss Drago. Sie verstehen, warum wir sowohl seine Bewegungen innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden zurückverfolgen müssen als auch jede Person finden, mit der er in diesem Zeitraum Kontakt gehabt hat. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Sie offen zu uns sind. Erzählen Sie uns einfach, was Sie gemacht haben, und mit ein wenig Glück können wir Sie aus der Liste der Verdächtigen ausschließen. Ich frage Sie erneut, in welcher Beziehung haben Sie zu Mr Penhallow gestanden?« Sie sank auf ihren Stuhl zurück, hob beide Hände und strich die wirren Haare nach hinten. Mit leiser, klarer Stimme sagte sie:

»Es hat jetzt wohl nicht mehr viel Sinn, es abzustreiten. Nicht, dass ich es je abgestritten hätte – er war derjenige, der nicht wollte … Aber es spielt jetzt keine Rolle mehr, was er wollte, nicht wahr? Oder was ich wollte? Alles ist ausgelöscht, durch den Tod. All diese alberne Heimlichtuerei. Am Ende spielt alles keine Rolle mehr, so ist es doch.« Sie stieß ein leises, freudloses Lachen aus.

»Das ist richtig«, sagte Pearce mit Neugier in der Stimme.

»Jetzt ist nicht die Zeit, um Geheimnisse zu bewahren. Waren Sie und Andrew Penhallow ein Liebespaar?«

»Was?« Sie starrte ihn an, und in ihren Augen stand ehrliche Bestürzung. Dann fand sie ihre Haltung wieder, richtete sich kerzengerade auf, fixierte Pearce mit einem durchdringenden Blick und rief:

»Gütiger Gott, müssen Sie eigentlich immer solche Fragen stellen?« Entweder ist sie eine sehr vornehme junge Frau oder eine ausgezeichnete Schauspielerin, dachte Markby. Auch die Polizistin verbarg ein Lächeln. Sie bemerkte Markbys Blick und riss sich schuldbewusst zusammen.

»Ich fürchte«, sagte der unglückselige Pearce und errötete von neuem,

»dass ich gezwungen bin, alle möglichen Arten von unangenehmen oder peinlichen Fragen zu stellen. Waren Sie und Andrew Penhallow … waren Sie seine Geliebte?«

»Sie müssen ja besessen sein von Ihren schmutzigen Fantasien! Selbstverständlich bin ich nicht – war ich nicht seine Geliebte, Sie Idiot!« Ihre grauen Augen funkelten vor Wut.

»Ich bin seine Tochter!«

KAPITEL 8

»SIND ENDLICH alle gegangen?« Carla Penhallow hob die Hand und blickte zu der Silhouette ihres Sohnes in der Tür auf.

»Ja, alle. Die Polizei und Mrs Flack. Ich musste sie förmlich durch die Tür schieben. Sie ist der Meinung, dass du eine Frau an deiner Seite brauchst, die dich stützt. Ich habe ihr gesagt, wir kämen zurecht.« Luke spähte besorgt zu seiner Mutter, als wäre er sich dieser Sache nicht ganz so sicher, wie er es gerne gehabt hätte. Sie waren im Salon. Die einzelne Tischlampe brannte noch immer im Zimmer, genau wie zum Zeitpunkt von Alan Markbys Besuch. Doch seit Markbys Besuch hatte Mrs Flack nicht untätig herumgestanden. Sie hatte im offenen Kamin ein Feuer angezündet, das nun die Luft mit seinem munteren Prasseln und Knistern und mit dem Geruch nach Baumharz erfüllte.

»Wenn man einen Schock erlitten hat, braucht man Wärme!«, hatte sie erklärt.

»Und es gibt nichts, das so beruhigend wirkt wie der Anblick eines richtigen Feuers im Kamin.« Das Feuer brachte nicht nur Wärme, sondern zusätzliches Licht. Der flackernde Schein tauchte das Zimmer in behagliche Intimität. Schatten tanzten über Wände und Decke. Die Scheite knackten und gaben hin und wieder ein anhaltendes Zischen von sich. Carla kauerte vor dem Feuer, einen leeren Kaffeebecher zu ihren Füßen. Sie beugte sich vor und starrte fasziniert in die Flammen, wie kleine Kinder es tun, wenn sie in dem tanzenden Licht Bilder zu erkennen versuchen. Sie saß so dicht vor dem Kamin, dass Luke Angst hatte, sie könnte sich das Gesicht verbrennen. Trotz der Hitze aus dem Kamin hatte sie eine alte Strickjacke seines Vaters über ihren Pullover gezogen und eng um ihren hageren Leib geschlungen. Die Hände waren in den weiten, zu langen Ärmeln verborgen wie im Gewand eines chinesischen Mandarins. Luke trat ein paar Schritte vor. Er war über einsachtzig groß und kräftig gebaut. Die Flammen verliehen seinen gutmütigen, einfachen und gebräunten Gesichtszügen einen rosigen Schein. In der Umgebung des alten Hauses hätte ein unbefangener Beobachter ihn durchaus für das Sinnbild eines Edelmannes aus dem achtzehnten Jahrhundert halten können, soeben zurückgekehrt von einem Ausritt über seine Ländereien.

»Wie geht es dir jetzt, Mutter?« Sie beantwortete seine Frage mit einer übellaunigen Gegenfrage.

»Über was hattet ihr da draußen alles zu reden? Ich habe euch gehört. Ihr wart sehr laut.« Er runzelte die Stirn.

»Nichts Besonderes. Polizeibürokratie, das ist alles. Nichts, worüber du dir Gedanken machen müsstest.« Sie sah auf, Misstrauen im Gesicht, und so fühlte er sich gezwungen hinzuzufügen:

»Sie wollten Dads Gewehre mitnehmen. Das heißt, sie haben sie mitgenommen, und ich konnte sie nicht daran hindern, fürchte ich. Zuerst musste ich sie aus dem Waffenschrank holen, obwohl er ordnungsgemäß abgeschlossen war und ich den Sinn dahinter nicht erkannt habe. Dann, als sie die Gewehre einpacken wollten, habe ich ihnen gesagt, ich wüsste nicht, aus welchem Grund. Vater hatte einen gültigen Waffenschein. Ich hab ihnen den Schein gezeigt. Die Waffen waren in einem Metallschrank, der mit der Wand verschraubt ist, und sie sind seit Ewigkeiten nicht mehr abgefeuert worden. Das konnte sogar ein Laie erkennen. Aber sie sagten, dass jetzt, wo Dad … dass die Lizenz auf Dad ausgestellt worden sei und jetzt auf dich oder mich übertragen werden müsste, wenn wir die Gewehre behalten wollten. Sie haben sich hinter Vorschriften verschanzt. Sie haben mir eine Quittung gegeben und die Waffen mitgenommen. Ich begreife nicht, was in ihren Köpfen vor sich geht. Was sie für eine Zeit damit verschwenden …« Er brach verdrossen ab, und in seinem Gesicht stand deutlicher Unmut geschrieben. Doch wenigstens war die Neugier seiner Mutter befriedigt. Sie hatte sich abgewandt und starrte wieder in das flackernde Feuer. Die Scheite knisterten, und ein Funkenschauer stob in die Höhe. Luke ging vor seiner Mutter in die Hocke, nahm den leeren Becher vom Boden auf und drehte ihn zwischen den Handflächen.

»Du solltest wirklich etwas essen, Mum«, sagte er.

»Du hast den ganzen Tag noch nichts zu dir genommen. Irene hat es mir verraten. Komm, ich bringe dir ein Tablett mit Essen.« Sie lächelte schwach und streckte eine dünne Hand aus, um ihm durch die Haare zu streichen.

»Ich habe überhaupt keinen Appetit, Liebling.«

»Aber du musst etwas zu dir nehmen!«, beharrte er.

»Wenn du darauf bestehst – ein Glas Whisky wäre nicht schlecht«, gestand sie.

»Nicht auf nüchternen Magen. Ich habe ein einfaches Omelett gemacht. Was hältst du davon, zusammen mit ein paar Scheiben Toast?«

»Oh, Luke!« Sie stieß ein leises ersticktes Lachen aus.

»Was du doch für ein Umstandskrämer bist! Außerdem ist es nicht richtig – ich sollte diejenige sein, die sich um dich kümmert. Du hast so einen Schock erlitten, dann die lange Fahrt, die Befragungen durch die Polizei … Was bin ich doch für eine lausige Mutter!«

»Hey!«, protestierte er.

»Du bist die beste Mutter, die ich mir denken kann. Ich bin kein Kind mehr, weißt du?«

»Ja, schon recht. Aber es scheint mir, als wäre es noch gar nicht so lange her, als du so ein kleiner Bursche warst und mit dem Dreirad durch den Garten gefahren bist – schon gut, ich höre ja auf. Ich will dich nicht mit meinen Babygeschichten in Verlegenheit bringen. Obwohl niemand in der Nähe ist, der mithören könnte …« Sie brach ab und verbarg das Gesicht in den Händen.

»Niemand …«, klang es dumpf zwischen ihren Fingern hindurch. Luke erhob sich, setzte sich auf die Armlehne ihres Sessels und legte den kräftigen Arm um ihre dünnen Schultern.

»Ich bin da«, sagte er. Sie saßen eine Weile schweigend da, dann sagte Carla ruhig:

»Ich nehme das Omelett. Wir sollten beide essen, das wäre schön. Aber lass uns vorher einen Whisky trinken.« Er lachte, tätschelte ihren Arm und sagte:

»So ist es schon besser, Mum.« Kurze Zeit später, nachdem sie gegessen und Luke das Geschirr in das Spülbecken geräumt hatte, wo es bis zum Eintreffen von Mrs Flack am nächsten Morgen bleiben würde, schenkte er seiner Mutter einen weiteren Whisky ein.

»Keine Sorge«, sagte er.

»Ich versuche nicht, dich zur Alkoholikerin zu machen. Es ist ein Schlummertrunk. Kipp ihn runter, und dann legst du dich hin.« Carla hielt das Glas in das Licht des Kaminfeuers, und der Inhalt leuchtete wie geschmolzene Bronze.

»Runterkippen? Mein lieber Junge, das ist der kostbare achtzehn Jahre alte Macallan deines Vaters. Er muss mit Andacht genossen werden.« Luke grinste und warf sich in einen freien Sessel. Die Holzscheite im Kamin waren zu weißer Asche heruntergebrannt, die nach und nach in die Glut fielen. Carla hielt das Glas schräg und beobachtete, wie der Inhalt von einer Seite zur anderen schwappte.

»Luke, mein Liebling, wir müssen stark sein. Auf uns kommt eine schwere Zeit zu. Nein – lass mich ausreden. Wir müssen uns gegenseitig stützen. Der Tod deines Vaters, die Art und Weise, wie er gestorben ist …« Sie stockte, bevor sie fortfuhr:

»Das alles bedeutet, dass dieses Haus und jeder darin für die nächsten Monate im Scheinwerferlicht stehen wird. Es wird eine schreckliche Erfahrung. Ich meine damit nicht einmal die Polizei, die überall herumschnüffelt und hier und dort stochert, ich meine die Presse … Kameras … Wir werden nicht mehr unbeobachtet ein und aus gehen können. Wir werden mit niemandem mehr reden können.« Sie runzelte die Stirn.

»Ich muss unbedingt mit Irene reden, gleich morgen Früh. Sie darf nicht schwatzen.«

»Ich denke, das hat die Polizei ihr schon deutlich gemacht«, sagte Luke.

»Ja, aber es ist nicht das Gleiche, als wenn du oder ich mit ihr reden. Es ist eine Familienangelegenheit, weißt du? Der Tod ist eine ganz persönliche Sache, und Irene ist quasi ein Mitglied unserer Familie. Zumindest ein Mitglied unseres Haushalts, wenn du diesen Ausdruck vorziehst. Wie dem auch sei, sie ist seit über zehn Jahren bei uns, und sie weiß so gut wie alles über uns …«

»Du musst dir wegen der guten alten Irene wirklich keine Gedanken machen, Mum«, unterbrach Luke seine Mutter.

»Trotzdem, ich werde morgen Früh mit ihr reden, wenn es dich beruhigt.« Sie sah ihn mit einer Entschlossenheit an, die er den ganzen Tag noch nicht an ihr gesehen hatte.

»Es ist nicht nur der Tod deines Vaters, auf den sich die Medien stürzen werden. Es geht auch um sein Leben – sie werden es auseinander nehmen, in jeden Winkel und jede Ecke leuchten. Du musst darauf gefasst sein, Luke.« Verwirrt fragte er:

»Warum? Was werden sie finden?«

»Das weiß ich nicht. Vielleicht nichts. Aber ich habe es schon früher gesehen, bei anderen. Der Tod, Begräbnisse – das alles führt dazu, dass Geheimnisse ans Tageslicht kommen. Was ich versuche, dir zu sagen, Luke – wir dürfen nicht zulassen, dass irgendetwas von dem, was wir erfahren, die Art und Weise ändert, wie wir von Dad denken. Verstehst du, was ich sage? Was auch immer ans Licht kommt – falls etwas ans Licht kommt –, es darf unsere Erinnerung an ihn nicht trüben. Das ist sehr wichtig, Luke. Verstehst du, was ich sagen will?« Er nickte unglücklich und fragte sich, warum das überheizte Zimmer plötzlich so kühl wirkte. Seine Mutter stand auf und beugte sich zu ihm hinab, um ihn auf die Stirn zu küssen.

»Gute Nacht, mein Liebling. Bleib nicht so lange auf. Ich denke, die Polizei wird morgen in aller Frühe wieder vor der Tür stehen. Ich frage mich, ob Alan Markby ebenfalls kommen wird? Du kennst ihn schon, oder? Er kannte Daddy noch aus der Schulzeit. Ich hoffe sehr, sie lassen ihm die Leitung der Ermittlungen, aber vielleicht muss er sie abgeben.« Sie ging zur Tür, wo sie sich noch einmal umdrehte.

»Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Mum.« Er sah ihr hinterher, bis sie gegangen war, dann drehte er sich wieder zum Feuer um. Es knisterte und prasselte ein letztes Mal, als wollte es ihn verspotten, und fiel zu einem Haufen Asche zusammen. In Luke erwachte eine dunkle Vorahnung, die er nicht abschütteln konnte, dass alles, was er bisher geglaubt hatte, dass seine ganze Welt dem Feuer folgen würde.

Kate Dragos Behauptung, dass sie die Tochter des Toten sei, löste beträchtliche Konsterniertheit aus. Was auch immer sie erwartet hatten – das war es ganz bestimmt nicht. Wie Inspector Pearce hinterher feststellte:

»Das hat für helle Aufregung gesorgt, keine Frage!« Doch im Augenblick der Eröffnung war der unglückselige Pearce einfach nur sprachlos gewesen und vollkommen unsicher, wie er von dort aus weitermachen sollte.

Nach dem anfänglichen betäubten Schweigen ergriff Markby die Initiative. Er erhob sich von seinem Stuhl und trat zum Tisch, an dem Pearce und Kate Drago saßen. Er konnte nicht länger den schweigenden Beobachter spielen. Die weibliche Beamtin räumte wortlos ihren Stuhl und schob ihn Markby hin, um anschließend zu seinem vorherigen Platz in der Ecke des Zimmers zu gehen. Pearce schob seinen Stuhl zurück, warf Markby einen fast dankbaren Blick zu, offensichtlich mehr als froh, dass der Superintendent die Befragung zu übernehmen gedachte.

Und was soll ich jetzt fragen? , überlegte Markby. Soll ich sie auffordern, ihre Behauptung zu beweisen? Nein, das kommt später, beschloss er. Für den Augenblick nehmen wir ihre Aussage hin. Er lächelte die junge Frau an.

»Das wussten wir nicht, Miss Drago«, sagte er.

»Nein«, antwortete sie.

»Nur sehr wenige Leute wussten Bescheid. Er hat nicht … Er ist verheiratet, verstehen Sie? Seine Frau weiß es nicht, und er wollte nicht, dass sie es herausfindet.« Sie legte die Stirn in kleine Fältchen, dann wurde ihr Gesicht wieder glatt. Fast lächelte sie.

»Jetzt wird sie es erfahren, oder?«

»Ja. Man wird es ihr wohl oder übel sagen müssen«, räumte Markby ein. Er fragte sich, was im Kopf der jungen Frau vorging. Sie hatte ihre Frage mit leicht erhöhter Stimme gestellt, als freute sie sich über die Tatsache, dass Carla Penhallow davon erfahren würde. Oder als wäre sie erleichtert? Jedenfalls nicht besorgt, ganz und gar nicht.

»Vielleicht möchten Sie uns mehr darüber erzählen?«, munterte er sie auf. Als sie ihn unsicher ansah, fügte er hinzu:

»Ich sollte Ihnen vielleicht verraten, dass ich Andrew Penhallow aus der gemeinsamen Schulzeit kenne, als wir beide jung waren.« Pearce blickte resigniert drein, als Markby seine Schulzeit erwähnte. Warum ist er zur Polizei gegangen?, schien er zu denken. Wenn er Karriere machen wollte, warum ist er dann nicht Anwalt oder Richter oder etwas in der Art geworden? Normalerweise führte höhere Schulbildung dorthin, nicht zur Polizei. Ein plötzlicher Gedankenblitz verriet ihm den Grund. Er wollte dort sein, wo die Musik spielt. Er will nicht erst ganz zum Schluss mit von der Partie sein, sondern von Anfang an, mitten drin. Und es geht ihm nicht um Ansehen und soziale Stellung. Wie hat er sich damals gesträubt, als es um seine Beförderung zum Superintendent ging!

»Ich wusste, dass er aus Cornwall stammt«, erzählte Markby.

»Das heißt, seine Eltern haben in Cornwall gelebt, und er hat Cornwall als seine Heimat angesehen. Jedenfalls damals. Später, schätze ich, nachdem er anfing, in der Welt herumzureisen, hat er sich wahrscheinlich mehr als eine Art Kosmopolit betrachtet.«

»Vermutlich, ja«, stimmte Kate Drago zu.

»Er hat sich jedenfalls ganz bestimmt nicht als einen Mann aus Cornwall gesehen. Nun ja, vielleicht ein ganz klein wenig. Es ist im Blut, man wird es nicht los.« Sie lehnte sich zurück und blickte Markby an, als hätte sie beschlossen, ihnen alles zu erzählen, und die Atmosphäre im Vernehmungszimmer entspannte sich beträchtlich. Alle atmeten heimlich auf. Die Polizistin schlug die Beine übereinander. Pearce sah aus, als würde er jetzt gerne eine Zigarette rauchen, doch er wollte nicht fragen, ob jemand etwas dagegen hatte. Sie hatte wahrscheinlich, Penhallows heimliche Tochter, und sie würde nicht zögern, ihm das zu sagen.

»Der Name meiner Mutter war Helen, und sie ist tot. Wahrscheinlich haben Sie sich schon gefragt, wer sie ist.« Alle nickten mehr oder weniger verlegen. Sie fuhr munter fort:

»Mein Vater und meine Mutter kannten sich von klein auf. Er ging fort, zur Schule, wo Sie ihn kennen gelernt haben, und meine Mutter blieb zurück. Ihre Eltern und seine Eltern waren Nachbarn und Freunde. Deswegen blieben sie immer in Kontakt.« Sie zögerte und fixierte Markby mit einem fragenden Blick.

»Sagen Sie mir ehrlich – glauben Sie, er wäre anders geworden, wenn sie ihn nicht so früh in ein Internat geschickt hätten? Wären Sie anders geworden? Können Sie das sagen?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Markby.

»Das kann man niemals wissen. Ich wurde hauptsächlich deswegen so früh in ein Internat geschickt, weil mein Vater ebenfalls dort war. Wie es der Zufall wollte, erbot sich mein Onkel, der unverheiratet war und zur damaligen Zeit der Rektor der Westerfield hier in der Nähe, die Schulgebühren für mich zu übernehmen, und meine Eltern glaubten, sie könnten sein Angebot nicht abschlagen.« Onkel Henry war legendär gewesen für seinen Geiz. Kein Wunder, dass Markbys Eltern sein Angebot nicht abgelehnt hatten. Onkel Henry hätte es bestimmt nicht noch einmal gemacht.

»Oh.« Kate Drago dachte über Markbys Antwort nach und zuckte die Schultern.

»Na ja, jedenfalls, meine Eltern standen sich immer nah, von Kindesbeinen an, aber sie erkannten auch, dass jeder von ihnen etwas anderes vom Leben erwartete. Vater wollte berühmt werden und Karriere machen. Sie wissen schon, er wollte seine Spur auf der Welt hinterlassen, wie Mutter es immer nannte.« Sie unterbrach sich erneut, um über ihre Worte nachzudenken.

»Er war eigentlich ein sehr langweiliger Mann, wissen Sie? Vielleicht hat er zumindest heimlich davon geträumt, ein Pirat zu sein. Cornwall hat eine weit zurückreichende Tradition, was Piraten, Schmuggler, Strandräuber und dergleichen angeht. Wie ich schon sagte, es liegt im Blut. Mutter auf der anderen Seite war eine Künstlerin. Sie hat den Norden von Cornwall geliebt und wollte ihn nie verlassen. Die Gegend inspirierte sie. Sie hat immer gesagt, dass sie zu ersticken glaubt, wenn sie länger von zu Hause weg ist, als könnte sie die Luft nicht atmen, wenn sie nicht aus Cornwall kommt. Eine weitere Tradition in Cornwall sind Künstlerkolonien. Und dort ließ Mutter sich nieder, in einem Nest voller Maler und Töpfer. Es war wie für sie geschaffen.« Kate Drago blickte Markby aus klaren grauen Augen an, und Markby spürte Unruhe in sich aufsteigen.

»Und so hat jeder gemacht, was er wollte. Sie arrangierten sich bereits damit, als beide noch jung waren, gerade Teenager. Er ging weg, und sie blieb. Er hatte seine Karriere und Macht und Einfluss, und irgendwann fand er eine gleichermaßen berühmte Frau. Sie hatte ihre Malerei und mich.« Sie verstummte abrupt.

»Mum hat mir erzählt, dass ich nicht geplant war, doch als sie herausfand, dass sie schwanger war, freuten sie sich beide sehr. Jedenfalls hat sie sich gefreut, und ich glaube ihr, was ihre eigenen Gefühle angeht. Sie hat mich wirklich geliebt. Bei ihm bin ich weniger sicher. Ich bezweifle, dass er auch nur annähernd so froh war, wie er nach außen hin tat, aber er hat mitgespielt. Er wollte sie wahrscheinlich nicht wütend machen, indem er ihr vorschlug, mich abzutreiben. Wie dem auch sei, er hat von Anfang an auf ihre Diskretion gebaut und darauf, dass sie mich bei sich in Cornwall aufwachsen lassen würde. Ich bin sicher, ich war von Anfang an eine Komplikation für ihn, auf die er gerne verzichtet hätte. Oh, das hat er niemals laut gesagt, nein, weder zu ihr noch zu mir«, fügte Kate Drago hastig hinzu.

»Verstehen Sie mich nicht falsch. Aber einem Kind kann man nichts vormachen. Kinder durchschauen die Lügen der Erwachsenen mit Leichtigkeit.«

»Ja«, stimmte Markby ihr zu.

»Kinder durchschauen die Lügen der Erwachsenen.« Er dachte an die Kinder seiner Schwester und ihre beängstigende Fähigkeit, die Gedanken der Erwachsenen zu lesen, ganz besonders Emma, das älteste ihrer Kinder. Plötzlich wurde ihm bewusst, was ihn an dieser jungen Frau so beunruhigte. Es war die Ähnlichkeit mit seiner Nichte. Emma, nach außen hin eine resolute, fähige junge Lady von dreizehn Jahren, war im Innern eine sensible, unsichere Seele. Es war so leicht, Kindern wie Emma oder Kate schweren Schaden zuzufügen, weil man nicht sah, wie sehr sie stolperten, während sie nach außen hin selbstsicher wirkten und zurechtkamen. Vielleicht, dachte Markby, vielleicht fehlt Emma das Gleiche wie dieser jungen Frau hier, ein klein wenig Sinn für Humor. Beide sind so todernst. Er bereute das letzte Wort, kaum dass er es gedacht hatte. Kate setzte ihre Erzählung fort.

»Nachdem ich geboren war, übernahm er in gewisser Weise die finanzielle Verantwortung für mich. Er hat Mutter nie direkt Geld gegeben. Dazu war er zu clever. Doch er achtete darauf, Geld zu schicken, weil selbst jemand wie Mum eine Menge Ärger gemacht hätte, würde er sich geweigert haben. Sie hatte kein Geld, und Babys kosten eine Menge. Er half ihr, eine kleine Galerie zu kaufen – eine Art Touristenfalle –, und gab ihr von da an regelmäßig ›Kredite‹, die nie zurückgezahlt wurden. Mum hielt es für richtig. Sie war so vertrauensselig. Sie war überzeugt, dass er sein Bestes tat. Später bezahlte er für meine Privatschule. Es war eine Tagesschule, von Nonnen geführt, bei uns in der Gegend. Mum wollte es so. Sie wollte, dass ich jeden Tag nach Hause kam. Aber in Wirklichkeit wurde ich deswegen nicht auf ein Internat geschickt, weil dort immer die Möglichkeit bestand, dass ich die Tochter eines seiner Kollegen kennen lernte, verstehen Sie?« Sie verzog abschätzig den Mund.

»Er war kein Dummkopf.« Markby war anderer Meinung, doch das sagte er nicht. Wenn Penhallow kein Dummkopf gewesen war, dann doch extrem kurzsichtig. Er musste doch erkannt haben, dass früher oder später der Tag der Wahrheit kommen und die ganze Geschichte ans Licht treten würde! Er hatte offensichtlich nichts unternommen, um sich auf diesen Tag vorzubereiten. Er hatte voll und ganz darauf vertraut, dass seine früheren Arrangements die Leute an der Nase herumführten. Kate dachte offensichtlich das Gleiche.

»Ich weiß nicht, wie es seiner Meinung nach hätte weitergehen sollen, wenn Mum älter und ich erwachsen war. Ich glaube, er hat sich geweigert, darüber nachzudenken. Selbst als bei Mum Krebs festgestellt wurde, schien er nicht zu begreifen, wie ernst es stand. Der Krebs wurde zu spät entdeckt, und man konnte ihn nicht mehr effektiv behandeln. Sie beschloss, sämtliche Behandlungen abzubrechen, als ihr klar wurde, dass es nicht mehr besser werden würde. ›A11 diese Schmerzen, für nichts!‹, sagte sie. ›Ich will nicht in einem Krankenhausbett sterben! Ich will zu Hause sterben, wo ich von meinem Schlafzimmerfenster aus das Meer sehen und hören und die Wellen riechen kann!‹ Und das hat sie dann auch gemacht.« Die Stimme der jungen Frau klang kühl und sachlich, doch das Trauma der letzten schmerzerfüllten Wochen ihrer Mutter hatte sich tief in ihre Seele gebrannt. Markby fragte sich, ob Kate Drago überhaupt eine Chance gehabt hatte, richtig um ihre Mutter zu trauern, eine verständnisvolle Schulter, an der sie alles herauslassen und sich von der Seele weinen konnte. Nicht Andrew Penhallow, so viel schien festzustehen. Und mit der unterdrückten Trauer war die unterdrückte Wut gekommen. Der Wunsch, irgendjemandem die Schuld zu geben für die Grausamkeit des Schicksals. Wer lag als Hassgestalt näher als der Mann, der ihre Mutter geliebt und trotzdem verlassen hatte?

»Er kam nicht zu ihrer Beerdigung«, fuhr Kate Drago fort.

»Er war unterwegs in Europa, und es tat ihm ja so Leid, dass er nicht kommen konnte. Er hat einen prächtigen Kranz geschickt mit einer förmlichen Karte daran: ›Zum Gedenken an eine liebe Freundin aus Kindertagen‹, stand darauf! Ich hätte ja nicht von ihm erwartet, dass er ›Geliebte‹ oder ›Mätresse‹ oder ›Mutter meines Kindes‹ schreibt, aber ein wenig mehr Mühe hätte er sich wirklich geben können, meinen Sie nicht?« Ja, dachte Markby. Sie ist verletzt, verbittert und sehr, sehr wütend auf ihren Vater.

»Ein paar Wochen später kam er nach Cornwall, um mich zu besuchen. Er führte mich zum Essen aus, in einen Pub, und erkundigte sich nach meinen Plänen für die Zukunft.« Kate Drago atmete tief durch.

»Er war so unbekümmert, dass es zum Himmel schrie! Als wäre ich nicht seine Tochter. Ich wurde unglaublich wütend. Ich sah ihn nur böse an und fragte ihn, was er denn nun gedächte, wegen meiner Zukunft zu unternehmen. Das erschreckte ihn. Er wurde zuerst blass, dann rot.« Zum ersten Mal schwang in Kates Stimme eine Spur von Amüsiertheit mit, doch es war mehr Schadenfreude als wirklicher Humor.

»Er bestellte sich einen weiteren Whisky. Dann hielt er mir eine Rede, lauter aufgeblasene, schwülstige Worte. Er wies mich darauf hin, dass ich achtzehn Jahre alt wäre und damit vor dem Gesetz volljährig, und ich hätte meine Schulbildung abgeschlossen, die er bezahlt hätte. Er wüsste nicht, was er sonst noch für mich tun könnte. Ich würde ja wohl nicht erwarten, dass er bis in alle Ewigkeit für meinen Unterhalt aufkäme – das waren seine Worte, als wäre ich ein Haus, nicht eine Person. Ich solle mir eine Arbeit suchen. Die Galerie war während Mums Krankheit geschlossen gewesen, aber vielleicht könnte ich sie ja wieder eröffnen? Oder etwas anderes verkaufen, Kaffee beispielsweise und Cornwall-Teemischungen.« Sie beugte sich so plötzlich vor, dass ihre Zuhörer am Tisch zusammenschraken.

»Damit wollte er mir im Grunde genommen sagen, dass ich bleiben sollte, wo ich war, mich unten in Cornwall verkriechen und ihm nicht unter die Augen kommen, für immer! Sie hatten meine Mutter begraben, und nun versuchte er, mich zu begraben! Du verdammter Bastard!, dachte ich. Das wirst du nicht tun! Du wirst mich nicht auf diese Weise abschieben! Ich sagte ihm, dass ich keinerlei Berufsausbildung hätte und dächte, dass ich vielleicht die eine oder andere Qualifikation erwerben müsste. Um dies zu tun, würde ich ein College besuchen müssen, und dazu bräuchte ich finanzielle Unterstützung.« Sie nickte vehement. Markby stellte sich vor, wie die beiden in einer gemütlichen Ecke in irgendeinem Pub in Cornwall gesessen hatten, während Kate ihre Bedingungen diktiert und Andrew entsetzt und hilflos gelauscht hatte.

»Er meinte«, fuhr Kate Drago fort,

»nach einem weiteren großen Schluck Whisky, dass er durchaus die ungewöhnlichen Umstände sehen würde. Damit meinte er den Tod meiner Mutter. Er stimmte mir zu, dass es nur vernünftig wäre, wenn ich mich um weitere Qualifikationen bemühe. Ich konnte förmlich sehen, wie sein Verstand arbeitete, wissen Sie? Wie er überlegte, dass ich einen besser bezahlten Job bekommen würde und damit die Wahrscheinlichkeit geringer würde, dass ich zu ihm käme. Schließlich sagte er, er wäre bereit, mir einen bescheidenen Zuschuss zu meinem Unterhalt zu zahlen, bis zum Alter von einundzwanzig Jahren, dem früheren Volljährigkeitsalter, wenn ich die Zeit nutzen würde, um eine Qualifikation zu erwerben. Unter der Bedingung, dass ich den Mund hielte. Wenn jemand mich fragte, sollte ich sagen, es wäre Geld, das meine Mutter mir hinterlassen hätte. Mieser alter Dreckskerl, dachte ich.« Markby unterbrach sie.

»Sie sind der Meinung, er hätte Ihnen mehr Unterhalt zahlen sollen?«, fragte er provozierend. Sie sprang auf, und ihr Stuhl polterte klappernd zu Boden. Pearce wollte erschrocken dazwischen gehen, doch Markby winkte ihn zurück.

»Sind Sie wirklich so bescheuert?«, brüllte Kate Drago.

»Ich wollte keinen Schilling von seinem verdammten Geld!«

»Nein«, sagte Markby leise.

»Sie wollten, dass er Sie öffentlich anerkennt.« Sie sank auf ihren Stuhl zurück, den Pearce inzwischen wieder hingestellt hatte.

»Ja! Ich bin … ich war seine Tochter! Ich wollte, dass er es vor aller Welt sagt, dass er dazu steht!«

»Aber das war etwas, von dem er glaubte, er könnte es nicht«, sagte Markby.

»Und es war auch nicht Teil des ursprünglichen Arrangements, das er mit Ihrer Mutter getroffen hatte.«

»Er hat aber kein Arrangement mit mir getroffen!«, entgegnete Kate Drago kalt.

»Sie sagen, er konnte es nicht, ich sage, er wollte nicht! Und so beschloss ich, ihn zu zwingen. Die ganze Geschichte war von Anfang an immer nur zu seinen Bedingungen gelaufen, bereits von dem Tag an, als er die Beziehung mit meiner Mutter einging. Es war allerhöchste Zeit, dass jemand anderes entschied, wie es weitergehen soll!«

»Halt, warten Sie einen Augenblick«, unterbrach Markby sie freundlich.

»Sie haben eben selbst eingeräumt, dass Ihre Mutter es so wollte. Sie wollte in Cornwall bleiben und malen, und das hat sie getan. Sie war hauptsächlich deswegen dazu im Stande, weil er sie finanziert hat. Es ist nämlich ziemlich schwer, sich mit Malen seinen Lebensunterhalt zu verdienen, wissen Sie?« Wie Markby das sah, hatten sich beide Elternteile selbstsüchtig verhalten. Doch Kate war nicht bereit, Kritik an ihrer Mutter zu dulden.

»Sie wollte in Cornwall bleiben«, erklärte sie geduldig, als sei Markby ein besonders begriffsstutziges Kind.

»Aber alles, was sie ausgemacht hatten, musste sich ändern, nachdem sie ein Kind von ihm empfangen hatte, oder vielleicht nicht? Er musste Verantwortung übernehmen!«

»Er hat das Schulgeld für Sie bezahlt, und das zusätzlich zu dem Geld, dass er in die Galerie Ihrer Mutter gesteckt hat. Das war ein beträchtlicher finanzieller Aufwand für Ihren Vater.« Beim Klang seiner Worte runzelte Markby die Stirn. Ja, eine ganze Menge Geld, über die Jahre gesehen. Ist es möglich, dass Carla niemals Verdacht geschöpft hat? Nie bemerkt hat, dass nicht ganz so viel Geld da war, wie eigentlich hätte da sein müssen? Kate blickte schon wieder ungeduldig drein.

»Mum war nicht sehr geschäftstüchtig. Sie war überhaupt nicht praktisch veranlagt. Sie war selbstverständlich glücklich, als mein Vater ihr die ›Kredite‹ anbot. Auf diese Weise hat er mein Schulgeld bezahlt, nicht direkt, wie Sie vielleicht glauben. Er hat einfach die ›Kredite‹ erhöht. Was Mum nicht begriff, es lag keinerlei offizielles Anerkenntnis darin. Nichts, womit sie ihn hätte festnageln können. Seine Zahlungen waren rein freiwillig. Nichts, wozu er gesetzlich verpflichtet gewesen wäre. Keine schriftliche Vereinbarung. Kein Schreiben, in dem er eingeräumt hätte, dass ich sein Kind bin. Er hätte seine Zahlungen einfach einstellen können, hätte Mum versucht, die Regeln zu ändern. Oder sogar das Geld zurückfordern, wenn sie sich störrisch gezeigt hätte, wenn sie beispielsweise versucht hätte, aus Cornwall wegzuziehen. Aber sie hat ihm vertraut, und außerdem war sie eine Künstlerin, sie hat sich nie etwas aus Geld gemacht. Wenn welches da war, gut. Wenn keines da war, dann hat sie eben gewartet, bis wieder welches eintrudelte. Solange es genug gab, um die Stromrechnung, das Essen und die eine oder andere Flasche Wein zu bezahlen, und natürlich die Malutensilien, war Mum zufrieden.« Ein Lächeln erschien auf Kates Gesicht, doch es verblasste rasch wieder.

»Selbst ihr Tod passte ihm in den Plan, als ich gerade achtzehn geworden war! Verstehen Sie, ich glaube, er war die Affäre längst leid, und er hatte vor, sämtliche Zahlungen einzustellen, sobald ich achtzehn geworden war. Nicht nur das Geld für meine Ausbildung, sondern alles Geld. Er wollte meine Mutter fallen lassen. Krebs ist wirklich eine schlimme Sache, aber wenigstens blieb meiner armen Mutter die Auseinandersetzung mit ihm wegen des Geldes erspart, und schlimmer noch, das Gefühl, nach so vielen Jahren verlassen zu werden. Das hätte sie vernichtet. Doch sie hätte ihn bestimmt vom Haken gelassen. Er wäre einfach so davongekommen, wissen Sie, und hätte uns vergessen. Ich bin nicht wie meine Mutter …« Kate Drago sah Markby erneut in die Augen, und die Farbe darin erinnerte ihn an polierten Stahl.

»Ich hätte ihn ganz bestimmt nicht davonkommen lassen und ihm erlaubt, mich zu vergessen.«

»Puh!«, murmelte Pearce. Der unglückliche Penhallow kann einem fast ein wenig Leid tun, dachte Markby ironisch. Auch wenn er ganz allein für sein Unglück verantwortlich ist. Doch im Grunde genommen empfand Markby für alle drei Mitgefühl, für die tote Mutter, die Tochter und den ermordeten Vater. Was für ein Chaos die Menschen doch aus ihren Leben und denen ihrer Kinder veranstalteten!

»Haben Sie Ihren Vater häufig gesehen, als Sie noch kleiner waren?«, fragte er mit ehrlichem Interesse.

»Als ich klein war, ja. Er kam ziemlich häufig vorbei. Er und Mum, sie waren immer noch, Sie wissen schon. Sie waren immer noch ein Liebespaar damals. Er brachte immer teure Geschenke mit. Ich bekam eine Puppe in einem Seidenkleid, ein kleines rosa Fahrrad, eine silberne Haarbürste und einen Spiegel, lauter Geschenke für kleine Mädchen. Oder besser Geschenke, von denen ein Mann glaubt, dass kleine Mädchen sie mögen. Ich mochte Puppen nie. Das Fahrrad hat mir am besten gefallen. Später hätte ich gerne einen Computer gehabt, aber da hatte er schon aufgehört, nach Geschenken für mich zu suchen. Stattdessen hat er mir einfach einen Zehner in die Hand gedrückt, wenn er kam. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich möchte nicht, dass Sie glauben, wir hätten keinen Spaß gehabt! Er war damals immer sehr fröhlich, und er hat Mum glücklich gemacht. Sie strahlte förmlich, wenn er da war. Wir haben viel gelacht und alberne Spiele gespielt und sind im Sommer an den Strand gegangen, um Muscheln und Geldmünzen und allerlei Zeugs zu sammeln.« Fast unhörbar leise fuhr sie fort:

»Ich habe immer gewusst, dass er mein Vater ist. Ich habe mich verzweifelt nach seiner Liebe gesehnt. Ich hatte immer den Verdacht, ganz tief im Herzen, dass er mich nicht mochte und dass er mir die Geschenke nur deshalb gemacht hat, weil er sein Schuldgefühl bekämpfen wollte.«

»Sie könnten sich darin auch irren«, gab Markby zu bedenken.

»Liebe stellt keine Bedingungen«, widersprach Kate Drago tonlos.

»Liebe sagt nicht: ›Hier, ich liebe dich, aber du hast diese Regeln einzuhalten …‹«

»Auch da irren Sie sich«, sagte Markby. Die Beamtin auf ihrem Stuhl in der Ecke hob den Kopf und bedachte Markby mit einem neugierigen Blick. Rasch fuhr Markby fort:

»Erzählen Sie uns von Ihrem Besuch auf Tudor Lodge. Sie hatten vor, Ihren Vater im Schoß seiner Familie zu konfrontieren, ist das richtig? Sie wollten ihm eine Szene machen?«

»Nein, keine Szene!« Kate Drago runzelte die Stirn.

»Ich bin nicht … so bin ich nicht! Ich gehöre nicht zu der hysterischen Sorte. Ich wollte ihn in Verlegenheit bringen, ja, das wollte ich. Ich dachte, ich könnte ihn zwingen, mit der Wahrheit herauszurücken und den anderen zu sagen, wer ich bin.«

»Ohne jede Rücksicht auf deren Gefühle«, unterbrach sie Markby. Sie errötete und dachte sekundenlang über seine Worte nach.

»Ja, ich schätze, Sie haben Recht, wenn Sie es so sehen. Es wäre nicht besonders angenehm für die anderen geworden, und sie haben mir nie etwas getan.«

»›Die anderen‹, damit meinen Sie seine Frau Carla und seinen Sohn Luke, richtig?«

»Ja.« Sie schien noch etwas hinzufügen zu wollen, doch dann schwieg sie.

»Sie haben die beiden nie gesehen oder mit ihnen gesprochen?«

»Ich habe noch nie mit seiner Frau gesprochen. Ich kenne sie vom Fernsehen.« Zögernd fügte sie hinzu:

»Ich habe Luke kennen gelernt. Aber er wusste nicht, wer ich war. Es war auf einer Party. Ich habe mir den Eintritt praktisch erschnorrt. Ich war so neugierig darauf, meinen Halbbruder kennen zu lernen. Ich weiß nicht, ob Luke sich überhaupt an mich erinnert. Wahrscheinlich nicht. Ich war nur eins von vielen Mädchen. Ich habe mich allerdings auf ein paar Fotos geschmuggelt, in der Hoffnung, dass mein Vater eins davon zu Gesicht bekommt, was aber offensichtlich nicht der Fall war, weil er nichts dergleichen gesagt hat. Also verschaffte ich mir ein paar Abzüge und beschloss, damit nach Bamford zu kommen, um sie ihm selbst zu zeigen. Ich bin per Anhalter hergekommen. Ich hatte Glück und fand einen Lastwagenfahrer auf einem Parkplatz, der an einem dieser Imbissstände Pause machte, um Kaffee zu trinken. Er hat mich fast den ganzen Weg mitgenommen und an der Abfahrt nach Bamford rausgelassen. Danach hat mich eine Autofahrerin bis fast vor die Haustür von Tudor Lodge mitgenommen. Ich war nicht allzu erbaut davon, weil sie die Familie kannte und neugierige Fragen gestellt hat, wirklich aufdringlich. Aber ich war einsilbig, und irgendwann gab sie Gott sei Dank auf!« Markby unterdrückte ein Grinsen. Kate schüttelte ihre goldene Mähne.

»Aber das ist der Grund, aus dem ich nach Bamford gekommen bin. Ich wollte ihm die Fotos zeigen! Ich dachte, das würde ihn ermuntern, endlich etwas für mich zu tun!«

»Und? Hatten Sie Erfolg?« Sie antwortete nicht, doch sie wurde blass im Gesicht, und ihr Mund zuckte, als hätte die Frage einen empfindlichen Nerv getroffen. Wie Andrew Penhallow auch immer reagiert hatte, es war nicht die Reaktion gewesen, die Kate Drago sich erhofft hatte. Doch was hatte sie sich erhofft? Dass er akzeptieren würde, was zu akzeptieren er sich immer geweigert hatte? Einfach so, von einem Augenblick zum anderen? Dass er seiner Familie verkünden würde, seine uneheliche Tochter wäre zu Besuch und sie sollten bitte alle herkommen und sie begrüßen? Nein, sie hatte wirklich nicht lange genug nachgedacht. Wie um diese Vermutung zu bestätigen, sagte Kate nun:

»Ich weiß nicht, was ich dachte, wie er es ihnen erzählen würde.« Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück.

»Aber wie sich dann herausgestellt hat, war sowieso niemand da. Das heißt, Carla war zwar im Haus, aber sie lag oben. Migräne, hat er gesagt.« Sie verstummte. Als Markby nichts sagte, nahm Pearce die Befragung wieder auf. Er hatte seine Selbstsicherheit zwischenzeitlich wiedergefunden.

»Als Sie vor Tudor Lodge ankamen, sind Sie da zum Vordereingang gegangen?«

»Was?« Sie starrte ihn an, als hätte sie ganz vergessen, dass er reden konnte. Ihr Gesichtsausdruck zeigte Überraschung, doch dann sammelte sie sich.

»O nein, zur Küchentür.« Sie verzog den Mund zu einer ironischen Grimasse.

»Zum Lieferanteneingang. Vorne brannte kein Licht, also ging ich hinten rum, und in der Küche brannte Licht. Ich spähte durch das Fenster und sah meinen Vater. Er war gerade dabei, sich eine Tasse Tee zu machen. Warum erzähle ich Ihnen das eigentlich alles? Ich habe doch bereits erklärt, wer ich bin und warum ich in dieses grauenhafte Nest gekommen bin!«

»Bitte sprechen Sie einfach weiter«, ermunterte sie Pearce mit ein wenig Schärfe in seiner normalerweise angenehmen Stimme.

»Was geschah als Nächstes?«

»Also schön!« Sie funkelte Pearce an.

»Ich habe an der Tür geklopft! Er öffnete. Er war überrascht, doch er ließ mich eintreten. Er hatte Angst, schätze ich, dass seine Frau etwas hören könnte, falls er versuchte, mir den Eintritt zu verwehren, und ich anfing zu zetern.« Sie unterbrach sich und machte keine Anstalten, in ihrer Erzählung fortzufahren.

»Und …?«, munterte Pearce sie auf.

»Wissen Sie, das geht Sie nun wirklich nichts an«, entgegnete sie.

»Es hat nicht das Geringste mit Ihren Ermittlungen zu tun. Und hören Sie, Sie haben mir immer noch nicht erzählt, wie er … wie er gestorben ist. Warum interessieren Sie sich für mich? Warum haben Sie mich hierher geschleppt?« Sie zog verärgert die fein geschwungenen Augenbrauen hoch.

»Wir gehen davon aus, dass er keines natürlichen Todes gestorben ist«, schnappte Pearce.

»Und deswegen geht uns das alles sehr wohl etwas an!« Markby erkannte, dass Dave Pearce die Nase gründlich voll hatte. Es war der jungen Frau gelungen, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er würde noch eine Menge mehr Ärger mit dieser Zeugin über sich ergehen lassen müssen, bevor der Fall endlich geklärt war. Er muss eben lernen, damit umzugehen, dachte Markby verdrossen. Die blasse Gesichtsfarbe der jungen Frau war einem ungesunden Grauton gewichen. In einem plötzlichen Ausbruch sagte sie:

»Mein Vater gab mir eine Tasse Tee, dann schaffte er mich aus dem Haus. Er verfrachtete mich in dieses öde Hotel, wo Ihr Sergeant mich gefunden hat. Er war am Leben, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, in Ordnung? Er war lebendig!« Sie atmete tief durch.

»Das war alles. Kann ich jetzt endlich gehen? Oder muss ich irgendetwas unterschreiben?«

»Alles zu seiner Zeit!«, schnappte Pearce.

»Um wie viel Uhr hat Mr Penhallow Sie im Hotel zurückgelassen?« Kate Drago hatte sich bereits halb aus ihrem Stuhl erhoben.

»Ich weiß es nicht, vielleicht acht Uhr? Es gibt eine Rezeptionistin, die Ihnen die genaue Zeit bestimmt sagen kann!«

»Miss Drago«, sagte Pearce ein wenig triumphierend,

»wir haben eine Zeugenaussage, nach der eine junge Frau, auf die Ihre Beschreibung passt, gestern Abend nach einundzwanzig Uhr in der Nähe von Tudor Lodge gesehen wurde. Die junge Frau war zu Fuß aus Richtung Stadtmitte auf der Straße unterwegs. Könnten Sie das gewesen sein? Sind Sie später noch einmal nach Tudor Lodge zurückgekehrt?« Kate setzte sich wieder hin, und zum ersten Mal während der Vernehmung glaubte Markby, aufsteigende Angst bei ihr zu spüren.

»Es ist ein Drecksloch, dieses Hotel«, murmelte Kate.

»Was hätte ich denn tun sollen? Die ganze Nacht herumhängen und darauf warten, dass er sich irgendeine Methode ausdenkt, wie er mich loswerden kann? Ich ging nach unten in den Speisesaal und hatte ein grauenhaftes Abendessen, irgendein namenloser Fisch in einer mehligen Soße mit einer Beilage aus verkochtem Gemüse … es war alles, was die Küche noch übrig hatte. Wahrscheinlich habe ich die Hotelkatze um ihr Abendessen gebracht.« Sie hatte Markbys Mitgefühl. Das Crown war alles andere als berühmt für seine Küche.

»Ich habe den Kopf um die Ecke in die Bar gestreckt«, fuhr Kate fort.

»Der Barmann musterte mich mit einem lüsternen Blick, den er wohl für sexy hielt. Ich hatte keine Lust, mich in das Pub zu setzen und von ihm oder dem übrigen Abschaum anstarren zu lassen, was blieb mir also übrig? Sollte ich mich in dieses schmuddelige Zimmer setzen und fernsehen? Ich war wütend, und ich lasse mich nicht gerne abschieben. Ich dachte mir, ich gehe zurück und versuche es noch einmal. Ich ging zu Fuß, weil es keinen Bus gab und nirgendwo ein Taxi zu sehen war. Es war nicht allzu weit, vielleicht zwanzig Minuten. Als ich ankam, sah ich, dass in der Küche immer noch Licht brannte, also ging ich um das Haus herum, genau wie beim ersten Mal. Ich sah meinen Vater durch das Fenster, genau wie beim ersten Mal, nur, dass er sich diesmal eine Wärmflasche füllte.« Kate blickte auf ihre Hände.

»Es war so unglaublich gewöhnlich. Er sah irgendwie älter und verletzlicher aus. Er trug einen Morgenmantel und sah aus wie ein alter Herr, der sich zum Schlafengehen fertig machte. Ich schämte mich, weil ich ihm so zugesetzt hatte.« Sie riss sich zusammen und bemühte sich, dieses Eingeständnis von Schwäche abzumildern:

»Ich wollte ihn nicht schikanieren, wirklich nicht, aber der Anblick dieser Wärmflasche, wissen Sie …« Alle nickten.

»Hat er Sie bemerkt?«, fragte Markby.

»Nein. Ich stand für ein paar Sekunden draußen vor dem Fenster und wusste nicht genau, was ich tun sollte, und dann …« Sie begann sich zu winden und wirkte plötzlich nervös. Pearce setzte sich kerzengerade auf. Kam jetzt vielleicht das Geständnis? Und tatsächlich – doch nicht das, was Pearce sich erhofft hatte.

»Hören Sie«, sagte Kate und beugte sich vertraulich vor.

»Das mag jetzt vielleicht eigenartig klingen, aber als ich dort stand, hatte ich auf einmal so ein merkwürdiges Gefühl. Als wäre ich nicht allein in diesem Garten. Es war wirklich unheimlich. Ich blickte mich um und erschrak zu Tode. Jemand stand an der Ecke des Hauses und beobachtete mich. Ich erstarrte vor Angst. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, oder wer es war …«

»Wie sah diese Person aus?«, fragte Markby. Kate Drago rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich weiß nicht einmal, ob es ein Mann oder eine Frau war. Es war nur ein Umriss, aber definitiv menschlich. Die Gestalt stand einfach lautlos da und beobachtete mich, als wartete sie ab, was ich tun würde. Ich konnte kein Gesicht erkennen. Offen gestanden, sie wirkte richtig gespenstisch. Ich war gestresst, und vielleicht habe ich mir alles nur eingebildet, aber verdammt, ich hab mich umgedreht und bin weggerannt, okay? Ich weiß, es war das Dümmste, was ich tun konnte, und jetzt, im hellen Tageslicht, klingt es so kläglich und … und feige, schätze ich. Aber ich war wirklich aufgeregt, und der Anblick war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.«

»Wohin sind Sie von dort aus gegangen?« Sie warf Pearce einen verärgerten Blick zu.

»Zurück zu diesem verdammten Hotel, wohin denn sonst?« Sie faltete die Hände und legte sie auf den Tisch.

»Und das ist alles«, fügte sie mit fester Stimme hinzu.

»Das ist die ganze Geschichte. Glauben Sie mir oder nicht, so ist es jedenfalls gewesen. Wenn Sie noch mehr von mir wissen möchten, dann hätte ich gerne einen Anwalt zugegen. Ich kenne zufällig einen. Sein Name lautet Frederick Green, und er wohnt in London, Hampstead, also müssen Sie warten, bis er hier eintrifft, und das wird schätzungsweise nicht vor morgen sein.« Ein boshaftes Glitzern trat in ihre Augen.

»Das wäre somit das Ende unserer Unterhaltung, richtig?« Das Ende der Unterhaltung, richtig, dachte Markby. Bis der Rechtsverdreher in Bamford eintrudelt. Und was machen wir bis dahin mit ihr?

»Falls wir Sie gehen lassen, werden Sie sich in diesem Hotel zur Verfügung halten, bis wir Sie wieder brauchen?«, fragte er.

»Und wer bezahlt?«, fragte sie missmutig.

»Das Hotel kostet Geld.«

»Wir können Sie natürlich auch über Nacht in einer Zelle unterbringen, falls Ihnen das lieber ist!«, schnappte der gequälte Pearce. Er hatte nun allmählich wirklich die Nase voll. Sie beugte sich vor.

»Können Sie natürlich nicht! Nicht, bevor Sie nicht Anklage gegen mich erhoben haben! Ich habe mit Ihnen kooperiert und all Ihre blöden Fragen beantwortet! Sie haben mich keines Verbrechens beschuldigt, und solange Sie das nicht tun, werde ich jetzt gehen!« Sie sprang auf. Sie war unübersehbar außer sich.

»Wir sind mit unserer Befragung noch nicht fertig, Miss Drago«, entgegnete Pearce. Sie setzte sich erneut, verschränkte die Arme und lächelte ihn eisig an.

»Dann schießen Sie los. Sperren Sie mich meinetwegen in Ihr Verlies. Freddie Green holt mich in weniger als fünf Sekunden wieder raus, sobald er davon erfährt.«

»Wir wissen Ihre volle Kooperation zu schätzen, Miss Drago«, mischte sich Markby mit einem Blick zu Pearce ein.

»Doch wie Inspector Pearce bereits gesagt hat, angesichts der Umstände sind wir durchaus befugt, Sie über Nacht in Gewahrsam zu nehmen. Allerdings bin ich mir bewusst, dass Ihre Verwandtschaft zu dem Toten Ihnen viel Kummer bereitet, und deswegen frage ich Sie erneut, ob Sie sich einverstanden erklären, im Crown wohnen zu bleiben, bis Ihr Anwalt vor Ort eingetroffen ist?«

»Also gut, meinetwegen«, lenkte sie ein.

»Dann bleibe ich eben in diesem elenden Hotel. Ich habe gerade ausreichend Geld.« Freundlich fragte Markby:

»Haben Sie Kleidung zum Wechseln mitgebracht?« Sie musste schließlich irgendetwas in dieser Umhängetasche mitführen.

»Wie aufmerksam von Ihnen!«, sagte sie sarkastisch, weil sie den Grund für seine Frage falsch interpretiert hatte.

»Ich komme zurecht, danke sehr.«

»Sie haben mich missverstanden.« Er war gezwungen, den Grund deutlich zu machen.

»Wir benötigen die Kleidung, die Sie tragen. Diese Kollegin hier«, er deutete auf die Beamtin in der Ecke,

»diese Kollegin wird Sie ins Hotel begleiten und dort Ihre Oberkleidung einsammeln, einschließlich Ihrer Schuhe und dieses gelben Schals.« Kates Hand ging nach oben zu dem Schal.

»Warum? Was zur Hölle hat das nun schon wieder zu bedeuten?« Sie brach ab, und die Zornesröte wich genauso schnell aus ihrem Gesicht, wie sie gekommen war, um ein fahles Grau zu hinterlassen.

»Sie suchen nach Blut und anderen Spuren!«, krächzte sie entsetzt, als ihr mit einem Schlag der Ernst ihrer Lage bewusst wurde. Es drohte ihr den Atem zu rauben. Markby tat sein Bestes, um sie ein wenig zu beruhigen.

»Es ist reine Routine. Keine Angst, Miss Drago, sie bekommen alles wieder, allerdings könnte es einen oder zwei Tage dauern. Haben Sie jetzt Kleidung zum Wechseln dabei oder nicht?« Die junge Frau rutschte elend auf ihrem Stuhl hin und her.

»Ich … na ja, nicht gerade, was man Kleidung zum Wechseln nennen würde. Ich habe eine schwarze Satinhose und ein gestreiftes Seidentop mitgebracht, das ist alles. Schuhe? Ein Paar mit Patentverschlüssen, passend zu den übrigen Sachen. Die Kleidung nimmt nicht viel Platz weg und zerknittert nicht … Ich … ich dachte, ich müsste vielleicht eine schickere Garderobe dabei haben, für irgendeinen Anlass halt.« Ihr Gesicht war erneut feuerrot, und Markby konnte sich den Grund denken. Sie fühlte sich gedemütigt. Was sie sich erhofft hatte, war natürlich, dass ihr Vater sie ihrer Familie vorstellen würde, dass sie willkommen geheißen und vielleicht sogar zum Abendessen eingeladen würde. Und dazu benötigte sie natürlich schickere Kleidung. Bemitleidenswerterweise – wie es jetzt, im Nachhinein erscheinen musste – oder vielleicht auch aus Trotz hatte sie ihre Ausgehsachen eingepackt. Sie unterdrückte ihre Verlegenheit und giftete zurück:

»Ich hoffe wirklich sehr, dass Sie die Sachen nicht länger als unbedingt nötig behalten! Ich kann schließlich nicht den ganzen Tag in einer Satinhose und einem Seidentop herumlaufen wie eine Nutte!« Sie bedachte Pearce mit einem bitterbösen Blick.

»Nun ja, Freddie ist ein alter Freund. Er kann mir ein paar Sachen zum Wechseln mitbringen. Ich werde von jetzt an kein Wort mehr sagen, bis er hier ist, haben Sie das verstanden?«

»Wir gehen ein Risiko ein, oder nicht?«, fragte Pearce, nachdem Kate Drago gegangen war.

»Indem wir sie einfach mir nichts, dir nichts zur Tür hinausspazieren lassen?«

Er blickte mürrisch drein, was ihm gar nicht ähnlich sah. Normalerweise war Dave Pearce der ausgeglichenste Mensch auf der ganzen Welt. Es muss etwas mit dem Mädchen zu tun haben, dachte Markby. Zuerst Prescott, und jetzt Pearce. Das hat nichts mit unserer Polizeiarbeit zu tun, sondern mit Biologie. Prescott ist hin und weg von ihr, und selbst Dave Pearce, obwohl glücklich verheiratet, ist durcheinander.

»Möglich«, sagte er entschlossen,

»aber das glaube ich nicht. Sehen Sie es auf diese Weise: Sie ist eine sehr gebildete und intelligente junge Frau. Wenn wir sie über Nacht in eine Zelle einsperren, wird sie sich dadurch an uns rächen, dass sie sich von nun an so widerspenstig wie nur irgend möglich verhält. Und wir können sie nicht weiter befragen, weil sie nach ihrem Anwalt verlangt hat. Wir müssen warten, bis er eingetroffen ist.«

»Sie ist doch jetzt schon widerspenstig!«, schäumte Pearce.

»Wenn dieser Klugscheißer von Rechtsverdreher eintrudelt, haben wir zwei von der Sorte!«

»Kommen Sie, Dave. Sie hat angesichts der Umstände sehr gut mit uns ›kooperiert‹, wie sie es nennt. Ich glaube nicht, dass sie versucht abzuhauen. Sie ist aus einem bestimmten Grund hergekommen, vergessen Sie das nicht. Sie wollte ihren Vater dazu bringen, vor seiner Familie die Vaterschaft anzuerkennen. Bisher deutet nichts darauf hin, dass sie dieses Ziel aufgegeben hat.«

»Aber ihr Vater ist tot!«, wandte Pearce ein.

»Wenn das ihr Plan war, dann kann sie ihn jetzt vergessen! Wir wissen außerdem nicht mit Sicherheit, ob sie uns die Wahrheit erzählt hat, ob sie tatsächlich seine Tochter war, meine ich. Das kann sie leicht sagen, jetzt, wo sowohl die Mutter als auch der angebliche Vater tot sind. Wer will ihr das Gegenteil beweisen?«

»Penhallow mag tot sein«, stimmte Markby zu,

»doch Carla und ihr Sohn sind immer noch sehr lebendig. Was Kate Drago angeht, so kann sie ihr Ziel immer noch erreichen.«

»Sie meinen, Kate Drago wird hier in Bamford bleiben, bis sie einen Weg gefunden hat, die beiden mit der Wahrheit zu konfrontieren?« Pearce sah Markby erschrocken an.

»Und wir lassen das zu? Das ist wohl kaum fair den beiden gegenüber.«

»Was ist an Mord schon fair, Dave? Ich glaube, dass Kate Drago so lange in Bamford bleiben wird, wie sie die kleinste Chance wittert, den Penhallows gegenüberzutreten. Sie ist einzig und allein deshalb hergekommen, weil sie den beiden als Andrews Tochter vorgestellt werden wollte. Sie hat sogar etwas Schickes zum Anziehen mitgebracht, für den Fall, dass eine Einladung zum Bleiben ausgesprochen würde. Sie ist keine Frau, die einen von langer Hand vorbereiteten Entschluss bei der ersten Hürde aufgibt. Sie ist eine Kämpferin, Dave, und niemand, der so schnell flüchtet. Wenn sie mit den Penhallows zusammentrifft, könnte das gewisse Entwicklungen beschleunigen, wie es so schön heißt. Sie hat uns eine überzeugende Geschichte erzählt, aber vielleicht ist sie ja auch nur eine gute Schauspielerin. Ich möchte eine ganze Menge mehr über sie in Erfahrung bringen, und im Augenblick finden wir mehr heraus, wenn wir sie an der langen Leine lassen, anstatt sie von der Außenwelt abgeschnitten in eine Zelle verfrachten.«

Pearce kaute aufsässig auf der Unterlippe.

»Ihre Geschichte ist verdammt dünn, wenn Sie mich fragen. Sie kam zurück, sah den alten Penhallow durchs Fenster und …«

Markby räusperte sich und murmelte, Andrew Penhallow und er seien früher Schulkameraden gewesen und etwa im gleichen Alter.

»Ich meinte nicht ›alt‹ wie ›Greis‹«, verbesserte Pearce hastig seinen Fauxpas.

»Ich meinte … Sie wissen schon, es ist eine Redewendung, nicht wahr? Ich wollte sagen, sie hat den verstorbenen Mr Penhallow durch das Fenster gesehen. Er war allein. Soweit mag ja alles noch stimmen, doch dann betritt sie mit ihrer Geschichte das Reich der Feen und Märchen. Sie erzählt uns etwas von einer mysteriösen Gestalt an der Hausecke, von der sie nicht einmal sagen kann, ob sie männlich oder weiblich war, und nimmt die Beine in die Hand – und all das, man stelle sich vor, nachdem sie den ganzen Weg von der Stadt nach Tudor Lodge zu Fuß gelaufen ist in der Absicht, den alten … Entschuldigung, den toten Andrew Penhallow ein zweites Mal zur Rede zu stellen! Das klingt faul, wenn Sie mich fragen, Sir. Mächtig faul!«

Markby dachte über Pearces Worte nach.

»Ich räume ein, dass sie nur undeutliche Angaben bezüglich der Gestalt machen konnte, die sie im Garten gesehen haben will. Ob es genug war, um sie so zu erschrecken, dass sie weggerannt ist … Sie war sehr nervös, und es war spät. Sie hat darauf gebaut, ihren Vater alleine anzutreffen, wie beim ersten Besuch. Hätte sie gewusst, dass noch jemand um das Haus herumschleicht, wäre sie vielleicht gar nicht so weit vorgedrungen, sondern gleich geflüchtet. Vergessen Sie nicht, wenn sie in der Lage war, durch das Küchenfenster ihren Vater zu beobachten, dann hätte jemand anderes genau das Gleiche tun können. Und vielleicht hat tatsächlich jemand anderes in der Dunkelheit gelauert, jemand, der einen Einbruch im Sinn hatte. Wie praktisch, dass Andrew Penhallow die Tür öffnete! Noch etwas«, fügte Markby hinzu.

»Es heißt tatsächlich, Tudor Lodge hätte einen Hausgeist.«

»Aber Hausgeister schlagen Menschen nicht die Köpfe ein«, entgegnete Pearce. Markby fand Prescott in der Kantine, wo er düster über einem Becher voll erkaltendem Kaffee und einem halb aufgegessenen Donut brütete. Glücklicherweise war außer Prescott nur noch eine Person anwesend, eine Zivilangestellte, die mit dem Rücken zu ihnen gewandt saß.

Markby legte die Hand auf die Lehne des Stuhls gegenüber Prescott und fragte freundlich:

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?«

»Nur zu …«, murmelte der junge Sergeant, ohne den Blick zu heben. Als Markby sich setzte, musterte er sein Gegenüber doch noch und erkannte viel zu spät, wer ihn angesprochen hatte. Er stieß den Stuhl geräuschvoll nach hinten und wollte aufspringen.

»Verzeihung, Sir! Ich … ich wusste nicht …«

Der Superintendent winkte ab.

»Ich möchte Sie weder stören noch aufhalten, Sergeant. Ich schätze, Sie haben Feierabend, oder?«

»Ich habe seit einer Stunde Feierabend, jawohl, Sir«, gestand Prescott. Markby lächelte.

»Und Sie haben es nicht eilig, nach Hause zu kommen? Das Personal der Kantine wird sich sehr geschmeichelt fühlen.« Prescott lächelte verlegen und nervös.

»Oder warten Sie vielleicht darauf …«, fuhr Markby verständnisvoll fort,

»… warten Sie darauf zu erfahren, wie die Befragung von Miss Drago ausgegangen ist?« Der unglückselige Prescott musste die Frage nicht erst beantworten. Er lief puterrot an und stieß versehentlich den Donut vom Tisch. Markby wartete, während der junge Sergeant das Gebäck vom Boden aufsammelte und es zusammen mit dem Teller zur Seite schob.

»Wir haben die junge Dame auf freien Fuß gesetzt«, berichtete Markby.

»Wenn Sie also hier geblieben sind in der Hoffnung, sie noch einmal zu sehen, dann haben Sie vergebens gewartet. Sie ist bereits weg. Sie wurde von uns zum Crown zurückgefahren, nachdem sie sich einverstanden erklärt hat, wenigstens so lange dort zu bleiben, bis ihr Anwalt aus London eingetroffen ist, was gleich morgen Früh der Fall sein wird. Sie hat mit ihm telefoniert, und sie wird mit ihm zusammen auf die Wache kommen, um unsere weiteren Fragen zu beantworten.« Prescott sah den Superintendent dankbar an.

»Wie ist das Verhör gelaufen? Die Befragung, meine ich?«

»Oh, sie war relativ offen und hilfreich. Sie räumt ein, dass sie gestern am späteren Abend noch einmal nach Tudor Lodge zurückgekehrt ist, doch sie behauptet, eine unheimliche Gestalt im Garten hätte ihr einen Schreck eingejagt und sie wäre geflüchtet.« Prescotts Miene hellte sich auf.

»Jemand anderes war dort!«

»Das sagt sie jedenfalls. Selbst wenn es stimmt, bedeutet das noch lange nicht, dass sie es nicht getan hat«, zerschmetterte Markby sämtliche Hoffnungen des jungen Beamten.

»Selbst wenn Sie überzeugt sind, dass sie es nicht gewesen ist, versuchen Sie, bei klarem Verstand zu bleiben. Ich habe in meiner Zeit eine ganze Menge charmanter Mörderinnen kennen gelernt.« Der junge Mann tat ihm Leid, doch es war die Wahrheit. Schurken, die ausgesehen hatten wie Engel … ihm fielen eine ganze Reihe ein.

»Im Augenblick deutet alles auf sie als die Täterin«, fuhr er gnadenlos fort.

»Sie werden ihre Geschichte überprüfen. Fangen Sie mit ihrer Reise nach Bamford an. Wir wissen, dass sie gegen sechs Uhr fünfzig abends direkt am Tor von Tudor Lodge abgesetzt wurde. Wir haben eine Zeugin, und rein zufällig hat diese Zeugin das eigenartige Verhalten der jungen Dame bemerkt, lange bevor wir Anlass hatten zu glauben, dass irgendetwas in Tudor Lodge nicht mit rechten Dingen zugeht.« Prescott murmelte mit der Verwegenheit eines Mannes, der seine Karriere aufs Spiel setzt:

»Soll ich diese Zeugin ebenfalls überprüfen, Sir?«

»Sie wissen genauso gut wie ich, Sergeant, dass diese Zeugin Miss Mitchell ist. Sie ist eine aufmerksame Beobachterin und als Zeugin absolut zuverlässig. Sie wird ihre Aussage jederzeit wiederholen. Sie hat einen Lastwagen gesehen, der an der Abfahrt nach Bamford gehalten hat, was die Behauptung von Miss Drago unterstützt, dass sie per Anhalter in einem Laster mitgefahren ist. Ich schlage deshalb vor, dass sie am Anfang beginnen, was so viel heißt wie: Finden Sie diesen Fahrer. Lassen Sie sich von Kate Drago die Stelle schildern, wo sie eingestiegen ist. Finden Sie heraus, wer sie von London aus dorthin gebracht hat, wenn Sie können. Ich würde ihre Bewegungen am liebsten bis zu ihrer Türschwelle zurückverfolgen, obwohl das wahrscheinlich nicht möglich sein wird. Aber wir sollten zumindest imstande sein, oder Sie sollten es, diesen Lastwagen aufzuspüren, in dem sie das letzte Stück ihrer Reise zurückgelegt hat.«

»Jawohl, Sir!«, sagte Prescott eifrig. Er wollte aufspringen und zur Tür rennen, doch Markby hielt ihn noch zurück.

»Wenn Sie damit fertig sind, suchen Sie den Nachtportier vom Crown auf. Gehen Sie zu ihm nach Hause. Er hat gesehen, wie Miss Drago das Hotel verlassen hat, und er muss sie auch bei der Rückkehr von ihrem zweiten Besuch auf Tudor Lodge gesehen haben. Finden Sie heraus, um welche Zeit sie aufgetaucht ist und ob sie nervös gewirkt hat.«

»Der Portier wird zwischenzeitlich bestimmt von dem Mord erfahren haben«, wandte Prescott düster ein.

»Und er wird alles über Kate wissen, ich meine, über Miss Drago. Er wird aussagen, dass sie bei ihrer Rückkehr blutbesudelt war, ein Messer in der Hand hielt und mit den Augen rollte wie eine Irre.« Markby, der wusste, dass Zeugen gerne nach einer solchen Geschichte überschlau reagierten, unterdrückte ein Grinsen.

»Also seien Sie vorbereitet und bringen Sie ihn in die Wirklichkeit zurück. Zwischenzeitlich ist die Spurensuche mit ihrer Kleidung beschäftigt, Jacke, Jeans, Stiefel … falls wir Penhallows Blut daran finden …«

»Ich kenne ihre Blutgruppe«, sagte Prescott unerwartet.

»Ich habe ihren Blutspenderausweis gesehen. Sie hat A negativ, das ist sehr ungewöhnlich, nicht wahr?«

»Miss Drago ist eine ungewöhnliche junge Frau.« Markby erhob sich.

»Also vergessen Sie nicht, Sie sind ein Cop, Sergeant. Das bedeutet nicht, dass Sie keine Gefühle haben dürfen, aber wenn sie bei Ihrer Arbeit in den Weg kommen, dann ist es Zeit, dies auszusprechen. Niemand wird Ihnen deswegen einen Vorwurf machen. Ich beauftrage einfach einen anderen Beamten mit der Arbeit.« Der junge Mann errötete bis über beide Ohren.

»Ich kenne meine Pflicht, Sir.«

»Sehr gut. So, und nun gehen Sie nach Hause und ruhen sich aus. Der morgige Tag wird für uns alle sehr anstrengend werden.« Und damit schloss er sich selbst mit ein. Selbstverständlich war er nicht verpflichtet, seinen freien Samstag zu opfern, doch er konnte die Dinge jetzt nicht sich selbst überlassen, nicht in diesem Stadium, und ganz besonders nicht mit Kate Dragos Anwalt, der am Morgen eintreffen würde. Das war eine Befragung, bei der er anwesend sein musste. Er hoffte nur, Meredith würde seine Argumente verstehen, auch wenn er den dumpfen Verdacht hegte, dass diese Hoffnung vergeblich war.

KAPITEL 9

MRS CROUCH stellte die Teekanne ab und tätschelte die Hülle aus gestreiftem Strick. Die Geste schien sie zu beruhigen.

»Mögen Sie vielleicht ein Stück Biskuit?«, fragte sie. Sie streckte Meredith den Teller hin. Mrs Crouchs Biskuits wurden nicht abgelehnt. Es war die traditionelle elfte Stunde, obwohl es rein technisch betrachtet erst halb elf an diesem Samstagmorgen war. Und obwohl normalerweise um diese Zeit am Morgen Kaffee getrunken wurde, gab es bei den Crouchs Tee. Es hatte etwas mit Mrs Crouchs Misstrauen gegenüber Kaffeemaschinen zu tun und mit Barney Crouchs strikter Weigerung, Instantkaffee zu trinken. Meredith hatte überlegt, dass sie ihre ältlichen Nachbarn warnen sollte, dass sich ein Dieb und Einbrecher in der Gegend herumtrieb. Sie wusste, dass die Crouchs lax waren, was das Abschließen der Türen tagsüber anbetraf. Mrs Crouch hielt an Angewohnheiten aus ihren Jugendtagen fest, als die Zeiten noch ehrlicher gewesen waren. Und Barney dachte sowieso nie daran. Und weil Alan spät am vergangenen Abend angerufen und erklärt hatte, dass er zumindest den Samstagvormittag über beschäftigt sein würde, hatte Meredith die unerwartete freie Zeit genutzt, um ihre Nachbarn zu besuchen und die Neuigkeit zu verbreiten. Wie nicht anders zu erwarten, gab es wichtigere Neuigkeiten, die den ihren vorausgeeilt waren. Andrew Penhallows gewaltsamer Tod war das Tagesgespräch von Bamford. Das versetzte Meredith in eine schwierige Lage. Sie verspürte keine große Lust, darüber zu reden, ganz zu schweigen davon, ihre Bekanntschaft mit Carla Penhallow zu offenbaren. Das würde zu begierigen Forderungen nach Einzelheiten aus dem Leben der Penhallows führen, Informationen, die Meredith nicht zu liefern imstande war (und die sie auch sonst nicht geliefert hätte). Nachdem sie die Version der Crouchs bezüglich des Mordes an Andrew hatte über sich ergehen lassen (sehr farbenfroh einschließlich mehrerer eigener Ausschmückungen), versuchte Meredith, die Aufmerksamkeit ihrer Gastgeber auf ihre eigene Geschichte und den jungen Einbrecher zu lenken. Doch sie kam zu spät damit. Die Nachrichten breiteten sich schnell aus in dieser Stadt, und Meredith hinkte dem Stand der Dinge hoffnungslos hinterher. Gegenwärtig jagte in Bamford eine Sensation die nächste. Indem sie mühelos von einem Thema zum nächsten sprangen, informierten die Crouchs ihre Besucherin, dass eine ältere Nachbarin den Einbrecher bereits bemerkt hatte.

»Mrs Etheridge«, berichtete Mrs Crouch.

»Wer sollte es auch sonst sein? Sie kennen sie ja. Stellen Sie sich vor, soweit ich mich erinnere, war sie als Kind sehr nervös und unruhig. Als wir jung waren, haben ihr die Jungen in der Schule Schnecken auf den Rücken gesetzt, um sie schreien zu hören. Und schreien konnte sie, die gute Janet. Sie konnte so laut schreien, dass einem die Trommelfelle platzten.« Der Gedanke an eine Mrs Etheridge als nervöses, ohrenbetäubend lautes Kind überstieg Merediths Vorstellungsvermögen. Doch ihre fehlende Reaktion entging Mrs Crouch, die munter weiter schwatzte.

»Ein junger Teufel. Wenn ich ihn erwische, werde ich ihm gehörig die Leviten lesen!«

»Jedenfalls hat die gute alte Janet jetzt wieder etwas Neues, worüber sie sich beschweren kann«, murmelte Barney Crouch respektlos von seinem Sessel am Kamin.

»Sobald sie den Schock überwunden hat, werden wir uns monatelang ihre Geschichte anhören müssen!« Seine Frau hob drohend den Teelöffel.

»Rein zufällig sind Janet und ich gleich alt. Unsere Geburtstage liegen nur eine Woche auseinander, also rede hier gefälligst nicht von ›alt‹! Und außerdem ist das nichts, was man auf die leichte Schulter nehmen darf. Wenn dir das Gleiche passiert wäre, hättest du auch eine Menge zu erzählen!« Sie drehte sich wieder zu ihrer Besucherin um.

»Ehrlich, Meredith, ich weiß überhaupt nicht, was in die jungen Leute gefahren ist! Zu meiner Zeit war das noch ganz anders!«

»Solange du’s selbst noch glaubst!«, nörgelte Barney.

»Es hat schon immer jugendliche Diebe gegeben, selbst Kinder. Kinder geben gute Diebe ab. Klein und gelenkig, darauf kommt es an. Sie quetschen sich durch den winzigsten Spalt, entwinden sich jedem Griff und sehen so aus, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Erwachsene Diebe haben schon immer Kinder vorgeschickt. Charles Dickens hat eine Geschichte darüber geschrieben. Der junge Waise Oliver Twist und der Taschendieb Artful Dodger.«

»Ach, das spielt doch in London!«, tat Mrs Crouch den Einwand ihres Mannes als bedeutungslos ab.

»In London, da gibt es so etwas, aber doch nicht hier in unserem friedlichen Bamford!« Barney sah Meredith an und verdrehte die Augen, dann zwinkerte er. Als er den misstrauischen Seitenblick seiner Gemahlin bemerkte, senkte er rasch den Kopf über seine Teetasse.

»Nun ja«, setzte Mrs Crouch ihre Erzählung fort, ohne den Blick von dem Halunken zu nehmen,

»Janet war jedenfalls einkaufen, Janet Etheridge meine ich, und sie hat eine ganze Menge eingekauft. Einen Teil davon hatte sie in ihrem Einkaufswagen, einen weiteren in einer Plastiktüte. Sie kam vor ihrer Haustür an und bemerkte einen Jungen, der auf der Straße herumstromerte und mit einer Blechdose Fußball spielte. Aber das ist nichts Ungewöhnliches, das machen Jugendliche eben, die nichts Besseres zu tun haben. Ich weiß nicht, was mit ihnen los ist. Sie sind scheinbar nicht mehr in der Lage, sich selbst zu beschäftigen, außer indem sie Schabernack treiben. Das liegt wahrscheinlich an all diesen Computern, das sage ich seit Jahr und Tag!«

»Ich bin früher über Gartenmauern geklettert und habe Äpfel und Pflaumen gestohlen«, gestand Mrs Crouchs schurkischer Ehemann Barney.

»Das sieht dir ähnlich!«, schnappte sie.

»Wie dem auch sei, Janet schloss ihre Haustür auf und brachte die Plastiktasche nach drinnen in den Flur. Dann ging sie wieder nach draußen, um den Wagen zu holen, und wissen Sie was?« Sie legte eine dramatische Pause ein.

»Nein«, bekannte Meredith gehorsam, wie es von ihr erwartet wurde.

»Natürlich weiß sie es nicht!«, grollte Barney vom Kamin her.

»Du hast es ihr ja noch nicht gesagt.«

»Ich weiß, dass du mich nur ärgern willst, darum werde ich deine Einwürfe von jetzt an ignorieren. Das hast du nun davon!«, informierte Mrs Crouch ihren Ehemann hoheitsvoll. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit Meredith zu und setzte ihre Erzählung fort.

»In den wenigen Augenblicken, die Janet diesem Tunichtgut den Rücken zugedreht hatte, ist er über den Vorgartenzaun gesprungen und hat ihre Geldbörse gestohlen! Sie hatte sie oben auf dem Einkaufswagen liegen. Sie hat sich umgedreht und gerade noch gesehen, wie der kleine Dieb wieder über den Zaun gesprungen und durch die Gasse davongerannt ist. Natürlich hatte sie nicht den Hauch einer Chance, den Dieb einzuholen.«

»Du meine Güte!«, sagte Meredith mitfühlend.

»Die arme Janet. Es war sehr unklug von ihr, die Geldbörse unbeaufsichtigt auf dem Wagen liegen zu lassen.«

»Man sollte doch nicht glauben, dass jemand sie stiehlt, wenn man nur ein paar Schritte entfernt steht, oder?«, widersprach Mrs Crouch.

»Sie hatte dem Wagen nur ein paar Sekunden lang den Rücken zugewandt, und als sie sich wieder umgedreht hat, da war sie – einfach weg!«

»Wie kann sie da gewesen sein, wenn sie weg war?«, fragte Barney nörgelnd.

»Ich wünschte wirklich, du würdest die englische Sprache nicht so missbrauchen, wie du das tust.« Die Crouchs waren noch nicht allzu lange verheiratet. Mrs Crouch, ehedem Mrs Pride, war eine einheimische Witwe. Barney war ein

»Zugereister«, ein Londoner von Geburt und in seinen besseren Tagen Drehbuchschreiber gewesen. Er hatte sich in ein einsames Haus in der Nähe von Bamford zurückgezogen in der Absicht, wie er nicht zögerte, jedem zu erzählen, seine letzten Tage in Frieden mit Trinken zu verbringen.

»Und dann habe ich eine Frau kennen gelernt, und bevor ich mich’s versah, war ich verheiratet und domestiziert!«

»Und in einem behaglichen Nest«, pflegte seine Ehefrau hinzuzufügen.

»Du wärst inzwischen lahm vor Rheuma in diesem feuchten alten Kasten, ganz zu schweigen davon, dass deine Leber wahrscheinlich längst in Fetzen wäre vor lauter Whisky!« Die Crouchs zankten den lieben langen Tag, und Meredith hatte bald erkannt, dass ihnen die verbalen Gefechte eine Menge Vergnügen bereiteten.

»Es ist das Geld, schätze ich«, sagte Mrs Crouch in diesem Augenblick.

»Sie suchen nach jedem bisschen Geld, das irgendwo herumliegt. Sie können nicht einfach Sachen stehlen. Würde eines dieser Kinder mit einem neuen Radio oder einem wertvollen Schmuckstück auftauchen, dann würden Fragen gestellt werden.«

»Kinder wie dieser Junge wissen genau, wo sie über einen Zaun springen können«, murmelte Barney.

»Vielleicht in London, wo du herkommst!«, entgegnete seine Gemahlin.

»Aber bestimmt nicht hier in Bamford! Die einzigen Zäune in Bamford bestehen aus Pfählen und Maschendraht und umschließen Gärten.«

»Man sollte wirklich meinen«, wandte sich Barney an Meredith,

»dass diese Stadt die personifizierte Unschuld ist, nicht wahr?« Das war definitiv keine passende Anmerkung im Hinblick auf die jüngsten Ereignisse. Mrs Crouch blickte grimmig drein und verkündete, dass zu ihrer Zeit die Menschen noch nicht in ihren eigenen Häusern erschlagen worden wären, jedenfalls nicht in Bamford. Barney hielt sich im Zaum und verzichtete darauf anzumerken, dass Andrew Penhallow nicht in, sondern vor seinem Haus erschlagen worden war, beziehungsweise hinter dem Haus, im Garten. Meredith stimmte den beiden zu, dass es ein schockierender Vorgang war, und kehrte zum Thema des jugendlichen Diebes zurück.

»Glauben Sie, Mrs Etheridge könnte den Dieb beschreiben? Es würde mich interessieren, ob es der gleiche Junge war.«

»Wieso?«, kreischte Mrs Crouch.

»Glauben Sie, es handelt sich um eine Bande?«

»Gehen Sie zu ihr und fragen Sie sie«, schlug Barney Crouch vor.

»Janet freut sich bestimmt über Ihren Besuch.« Er stieß ein unterdrücktes Kichern aus.

»Mehr noch, sie wird ganz entzückt sein!«

»Ich glaube, dass die Welt vor die Hunde geht«, sagte Mrs Etheridge gefasst.

Darauf, überlegte Meredith, gab es keine Antwort. Ein Besuch bei Janet Etheridge bedeutete keine bequemen Sessel, keinen Tee und keine selbst gemachten Biskuits. Meredith saß kerzengerade auf einem unbequemen Holzstuhl. Janet Etheridge hatte ihr – unter einigem Zögern – eine Tasse wässrigen Instantkaffees angeboten und einen Vanillebiskuit aus der Fertigpackung. Nichtsdestotrotz war sie begierig, über ihre erst kurze Zeit zurückliegende bestürzende Erfahrung zu sprechen, genau wie Barney vermutet hatte. Und dies tat sie nun groß und breit und schmückte die Ereignisse mit ihrem eigenen Garn aus.

»Überall kann man die Zeichen sehen«, fuhr Mrs Etheridge fort.

»Selbst hier in Bamford. Niedergang und Korruption allenthalben. Sehen Sie sich nur an, was in Tudor Lodge geschehen ist! Der arme Mr Penhallow. Aber Sünden fallen immer auf den Urheber zurück, ist es nicht so, Miss Mitchell?« Diese letzte Bemerkung schien derart non sequitur, dass Meredith sich veranlasst sah, von ihrem gefassten Entschluss abzuweichen, nicht über den Mord in Tudor Lodge zu sprechen.

»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte sie.

Mrs Etheridge beugte sich vertraulich vor.

»Haben Sie denn nicht gehört? Man erzählt sich, dass Mr Penhallow von seiner eigenen Vergangenheit eingeholt worden ist. Er hatte zwei Familien, wissen Sie, und keine wusste von der anderen, stellen Sie sich das vor! Ich weiß nicht, ob er mit beiden Frauen verheiratet war, aber falls dem so ist, dann war er ein Bigamist, oder nicht? Und falls nicht, weiß ich nicht, ob es das besser macht. Mehr noch, eines seiner illegitimen Kinder ist aufgetaucht, hier in Bamford! Es ist doch wohl offensichtlich, dass so etwas zu Scherereien und Problemen führt.«

Meredith hätte sich fast an ihrem Kaffee verschluckt. Sie konnte gerade noch verhindern, dass sie den Inhalt der Tasse verschüttete. Hastig riss sie sich zusammen.

Dies lediglich als eine

»neue Entwicklung« zu bezeichnen wäre Untertreibung pur gewesen! Falls Mrs Etheridge die Wahrheit sagte, wäre es eine vernichtende Neuigkeit. Als Meredith das letzte Mal mit Alan gesprochen hatte, war die junge Frau nichts weiter als eine Anhalterin gewesen, vielleicht ein wenig mysteriös, aber nichts hatte auf eine Enthüllung wie diese hingedeutet! Eine Tochter? Hatte Andrew tatsächlich ein Doppelleben geführt?

Sie schüttelte den Kopf, um die Benommenheit zu vertreiben. Gerüchte verbreiteten sich in kleinen Gemeinden wie Buschfeuer. Die Penhallows, obwohl sie schon lange in Bamford lebten, waren in der Stadt nicht sonderlich bekannt gewesen, und ihre Reserviertheit hatte die Gerüchteküche befeuert. Andrews häufige Abwesenheit, insbesondere die viele Zeit, die er auf dem Kontinent verbracht hatte, Carla mit ihrer Karriere beim Fernsehen, ihre Serien – es war nur zu natürlich, dass die übrigen Einwohner sich den Mund zerrissen und bereit waren, fast alles zu glauben, was an Gerüchten über die Penhallows in die Welt gesetzt wurde.

Wie zur Untermauerung von Merediths Gedanken sagte Mrs Etheridge:

»Das viele Geld. Es führt die Menschen in Versuchung. All dieses Kommen und Gehen. Aber so sind die modernen Zeiten eben, schätze ich.«

Meredith murmelte eine undeutliche Zustimmung, während ihr Verstand fieberhaft arbeitete. Es konnte nicht sein. Und doch – diese junge Frau hatte einen unvergesslichen Eindruck hinterlassen. Ihr eigenartiges Verhalten, diese Mischung aus Selbstsicherheit und Heimtücke. Nach Tudor Lodge zu marschieren und – wahrscheinlich – uneingeladen an der Tür zu klopfen, in der festen Überzeugung, dass sie jedes Recht dazu hatte. Falls sie tatsächlich Andrews Tochter war, würde das ihr Verhalten erklären. Hinzu kam ihre Unwilligkeit, sich Meredith zu erklären. Schließlich, dachte Meredith, warum sollte sie sich einer Fremden offenbaren, nur weil diese sich erbarmt und sie ein Stück weit im Wagen mitgenommen hat?

Sie rutschte unruhig auf ihrem unbequemen Stuhl hin und her und überlegte, wie sie am schnellsten aus Mrs Etheridges Haus entkommen konnte. Sie spürte ein fast überwältigendes Bedürfnis, so schnell wie möglich mit Alan zu reden. Er würde ihr die Fakten nennen. Was Mrs Etheridge erzählte, konnte sich durchaus als falsch erweisen. Es musste falsch sein – oder nicht?

»Sie sehen ein wenig bestürzt aus«, meinte Mrs Etheridge.

»Sie haben Ihren Kaffee gar nicht getrunken, meine Liebe.«

»Oh. Verzeihung.« Meredith nippte schuldbewusst an ihrer Tasse mit dem schalen Gebräu. Der eigentliche Grund ihres Besuchs kam ihr in den Sinn. Sie riss sich zusammen und zwang sich zu ihrem ursprünglichen Vorhaben zurück.

»Äh, der Junge, der Ihre Geldbörse gestohlen hat – ich habe gehört, Sie hätten ihn genau gesehen.« Mrs Etheridge dachte kurz über ihre Antwort nach, während sie an den Ärmeln ihres selbst gestrickten Pullovers zupfte.

»Er hat in der Straße gespielt, als ich nach Hause kam, mit einer Dose. Ich rief ihm zu, er solle nicht so einen Lärm veranstalten und die Dose in einen Papierkorb tun oder mit nach Hause nehmen. Er hat mich ignoriert, überhaupt nicht beachtet. Diese Jugendlichen heutzutage haben einfach keine Manieren mehr! Er hat einfach weiter gespielt und die Dose durch die Straße getreten. Es war ein furchtbarer Lärm! Ich hatte an jenem Tag viele Einkäufe gemacht. Meine Knie hatten mir vorher Sorgen bereitet, und ich war nicht oft draußen. Ich sperrte meine Haustür auf und trug die Plastiktüte nach drinnen – nur ganz kurz, stellen Sie sich das vor, keine zwei Meter, höchstens! Ich war nicht weit weg von meinem Einkaufswagen. Ich hatte ihn vor den Treppenstufen stehen lassen.« Sie klang, als wollte sie sich rechtfertigen. Ihre Nachlässigkeit hatte eine große Rolle bei ihrem Missgeschick gespielt, doch sie war nicht bereit, dies einzugestehen.

»Ich hörte ein kratzendes Geräusch und lautes Atmen und drehte mich schnell um – nicht schnell genug. Er war schon wieder über den Zaun und rannte die Straße hinunter davon – mit meiner Geldbörse!« Mrs Etheridge atmete schwer vor Entrüstung.

»Ich habe selbstverständlich sofort die Polizei verständigt!«

»Und?« Meredith wartete, Mrs Etheridge schwieg sekundenlang, bevor sie antwortete.

»Die Beamten waren alles andere als hilfreich«, sagte Mrs Etheridge schließlich steif und presste die Lippen zusammen.

»Oh. Das tut mir Leid«, sagte Meredith.

»Haben Sie, äh … haben Sie viel Geld verloren? Oder sonst irgendetwas Wertvolles?«

»Nein, nicht viel Geld«, räumte Mrs Etheridge ein.

»Ich war ja fertig mit meinen Einkäufen, und ich bezahle immer mit richtigem Geld, wie sich das gehört. Ich habe keine von diesen komischen Plastikkarten. Ansonsten war nur noch mein Bibliotheksausweis in der Börse. Die Bücherei hat mir schon einen Ersatzausweis ausgestellt. Ich hoffe nur, der junge Taugenichts leiht jetzt nicht Dutzende von Büchern mit dem alten aus! Die junge Frau in der Bücherei hat gesagt, sie würden ein Auge darauf halten, aber wenn er diesen Ausweis benutzt und Bücher ausleiht, ohne sie zurückzugeben, muss ich sie alle bezahlen, oder?« Meredith versicherte der älteren Dame, dass sie aus der Verantwortung entlassen war, weil sie in der Bücherei Bescheid gegeben hatte.

»Könnten Sie diesen Burschen beschreiben?«, kam sie zum Thema.

»Weil nämlich ein junger Kerl versucht hat, in meine Küche einzubrechen. Ich habe ihn verjagt, aber ich würde gerne wissen, ob es der gleiche war.«

»Küche?« Mrs Etheridge bedachte Meredith mit einem erschrockenen Blick.

»Bitte entschuldigen Sie mich für einen Augenblick, Liebes.« Sie sprang auf und eilte in den hinteren Teil des Hauses. Meredith blieb alleine in dem freudlos eingerichteten Wohnzimmer zurück. In einem Kübel neben ihrem Stuhl wuchs eine Sansevierie, die ebenso unfreundlich wirkte wie ihre Umgebung. Meredith leerte ihren Kaffee hastig in die Blumenerde. Mrs Etheridge kehrte zurück. Sie war ein wenig außer Atem, und ihre normalerweise bleichen Wangen waren gerötet.

»Ich habe gerade meine Küchentür abgeschlossen, Meredith. Ich bin erschrocken, als Sie sagten, er hätte versucht, bei Ihnen auf diese Weise einzubrechen. Was für eine schreckliche Zeit, in der wir leben! Man ist im eigenen Haus nicht mehr sicher! Aber Sie haben ihn verjagt, sagen Sie, bevor er etwas mitnehmen konnte?« Sie klang ein wenig übellaunig, weil Meredith keinen Verlust erlitten hatte.

»Ich weiß nicht, ob ich ihn gut beschreiben kann. Diese Jugendlichen sehen doch alle gleich aus heutzutage! Sie ziehen sich alle gleich an, Jeans und diese komischen Reißverschlussjacken und klobige weiße Turnschuhe. Der Taugenichts war stämmig, vielleicht vierzehn Jahre alt, vielleicht auch jünger, ich kann es wirklich nicht sagen. Er hatte die Haare sehr kurz geschnitten, das ist mir aufgefallen, aber nicht so kurz, dass ich seine roten Haare nicht mehr sehen konnte. Er war ein richtiger Karottenkopf, wissen Sie? Noch etwas Kaffee?«

»Nein danke, ich muss jetzt gehen. Aber es klingt tatsächlich, als wäre es der gleiche junge Mann gewesen.« Meredith erhob sich hastig.

»Ich kann nur sagen«, fügte Mrs Etheridge auf der Schwelle hinzu,

»dass er auf dem Weg in sein Verderben ist, das ist alles, was ich weiß.« Sie nickte vehement und schloss hinter Meredith die Tür.

»Guten Morgen, guten Morgen!«, trällerte Dr. Fuller fröhlich und winkte seinem Besucher mit einem chirurgischen Instrument zu.

»Sind Sie vorbeigekommen, um zu sehen, was ich für Sie habe?« Alan Markby hatte alles andere als einen guten Morgen.